Klett-Themendienst Nr. 72 (10/2016)

Seit den verheerenden Ergebnissen der ersten PISA-Studie im Jahr 2001 ist die deutsche Bildungsseele angeknackst. Damals fielen Deutschlands Schülerinnen und Schüler im internationalen Vergleich mit unterdurchschnittlichen Leistungen auf: Jeder vierte 15-Jährige konnte nicht richtig lesen und schreiben. Seitdem ist viel passiert. Heute gibt es zahlreiche Projekte, die die Lese- und Schreibkompetenz fördern.

„I-C-H K-A-N-N L-E-S-E-N!“ Dieser kurze Satz ist für die sechsjährige Hannah ein echter Meilenstein. Denn sie hat ihn selbst gelesen. Zugegeben – es klingt noch etwas holprig. Dennoch drückt dieser eine Satz aus, was Hannah nun endlich kann: Lesen. Damit hat sich für die Erstklässlerin eine neue Welt erschlossen. Hoch motiviert setzt das Mädchen bei jeder Gelegenheit Buchstaben an Buchstaben und formt so erste Worte. Die Anfangseuphorie bei der Sechsjährigen ist wie bei den meisten ihrer Mitschüler groß.

Damit dies auch so bleibt, müsse man den Kindern vorrangig Appetit auf Texte machen, erklärt die Studiendirektorin Jutta Merwald vom Gymnasium im unterfränkischen Veitshöchheim. „Das geschieht durch affektiv-motivationale Zugänge zum Medium Buch, dadurch dass man Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit eröffnet, einen Text mit allen Sinnen zu erfassen, und zwar bevor die didaktische Hand die Erschließung in die gewünschten Bahnen lenkt. Freies Lesen im Unterricht, Lesewettbewerbe, Lesecafés, literarische Zirkel, Präsentation von Büchern durch Lesescouts, interaktive Vorlesestunden, Online-Bibliotheken, Book Slams – es gibt zahlreiche Möglichkeiten, das Lesen als attraktive Freizeitmöglichkeit in den Köpfen unserer Kinder und Jugendlichen zu verankern.“

Mit der richtigen Strategie zum Erfolg

Auf die richtigen Strategien kommt es also an. Mit diesen befasst sich die erste „Literarische Lese in Franken“. Der Literaturtag in Veitshöchheim am 15. Oktober 2016 stellt Trends, Entwicklungen und praxiserprobte Modelle der Leseförderung vor. Dabei beziehen sich diese nicht nur auf das Fach Deutsch, wie Jutta Merwald, die Koordinatorin der Veranstaltung, betont: „In jeder Unterrichtsstunde steht die Lesekompetenz, also die Fähigkeit zum sinnentnehmenden, verstehenden Lesen, auf dem Prüfstand. Unsere Schülerinnen und Schüler müssen sich mit unterschiedlichsten Texten auseinandersetzen. Ihr Verständnis kontinuierlicher beziehungsweise diskontinuierlicher Texte bildet die Grundlage für die Fähigkeit, sich Fragestellungen zielführend zu nähern und zu Lösungen zu gelangen.“ Ganz gleich, ob sich die Schülerinnen und Schüler in natur-, gesellschafts- oder geisteswissenschaftlichen Bereichen Wissen aneignen, die Schlüsselqualifikation zum schulischen Erfolg ist und bleibt demnach die Lesekompetenz.

Leseförderung als fächerübergreifende Aufgabe

Aus diesem Grund bietet der Veitshöchheimer Literaturtag fachlich vielfältige Workshops an. Dr. Anita Rösch von der Justus-Liebig-Universität Gießen referiert zum Thema: „Vielfalt trifft auf Vielfalt – Textarbeit im Ethikunterricht“. Im Ethikunterricht treffen viele unterschiedliche Kulturen aufeinander. Das sei auf der einen Seite bereichernd, auf der anderen Seite aber auch eine Herausforderung für die jeweilige Lehrkraft. „Deshalb ist es sinnvoll, sich die Erkenntnisse der Leseforschung zunutze zu machen. Zielführend ist es, erst einmal über Bilder, Zitate und Erfahrungen, die die Schülerinnen und Schüler bereits gemacht haben, Vorwissen zu aktivieren. Das funktioniert dann im Gehirn fast wie ein Schüssel, der die Tür aufschließt. Der Text wird leichter verstanden, weil bereits ein grobes Verständnis  dafür aufgebaut wurde, um was es im Text geht“, so Rösch. Ein weiterer wichtiger Punkt sei, die Schülerinnen und Schüler mit möglichst konkreten Aufgabenstellungen genau anzuleiten. Das mache es erheblich leichter, die gestellten Aufgaben auch bewältigen zu können.

Einbindung digitaler Medien

Ein weiterer der insgesamt 27 Workshops befasst sich mit dem Modellprojekt „lernreich 2.0 – Üben und Feedback digital“ des Stiftungspakts Bayern. In dem Schulversuch erproben 45 Modellschulen, wie digitale Medien genutzt werden können, um die individuelle Förderung und die Fähigkeit zum selbstgesteuerten Lernen in Mathematik, Naturwissenschaften und anderen übungsintensiven Fächern voranzutreiben. Dazu werden den Schülerinnen und Schülern webgestützte Aufgaben auf unterschiedlichen Niveaustufen zur Verfügung gestellt. Diese können allein oder auch in Gruppen bearbeitet werden. Digital verfügbare Feedback-Instrumente sollen zudem die Lernwirksamkeit erhöhen. „Als ein besonders begrüßenswerter innovativer Ansatz erscheint mir, dass untersucht wird, wie man durch asynchrone Prüfungen den unterschiedlichen Lerntempi der Schülerinnen und Schüler gerecht werden kann. Individualisierte Übungsmöglichkeiten fordern im Grunde auch individuell angesetzte Prüfungsformate, die dennoch garantieren, dass sich am Ende alle Schülerinnen und Schüler derselben Jahrgangsstufe auf einem gemeinsamen Kompetenzniveau befinden“, resümiert Jutta Merwald.

Als überaus interessant und vielleicht sogar zukunftsweisend bewertet Jutta Merwald den Workshop zum Thema „Social Reading“. In einem geschützten Raum im Web können Schülerinnen und Schüler zusammen mit der Lehrkraft selbstgeschriebene Texte, Kommentare und auch Bilder zu in der Schule gelesenen Primärtexten teilen. „Vernetzte Texte werden damit zu dynamischen Gebilden, was ohne Zweifel zu einem vertieften Verständnis und einer Steigerung der Lesemotivation führen kann. Der Wechsel zwischen Primärtext und Metatext ist anspruchsvoll und belebend. Die Sinnerschließung wird zu einem kooperativen Prozess und bleibt damit spannend und anregend.“

Kompakt
Die „Literarische Lese in Franken“, die am 15. Oktober 2016 in Veitshöchheim stattfindet, ist eine schulartübergreifende Fortbildungsveranstaltung, die sich mit der Leseförderung in den verschiedensten Bereichen befasst. Das Gesamtprogramm der Veranstaltung finden Sie hier.