Klett-Themendienst Nr. 73 (11/2016)

(hg) Noch nie wurde so viel geschrieben wie heute. Digitale Medien wie Chats, Facebook und Twitter erlauben es Jugendlichen, lustvoll miteinander zu kommunizieren. Doch diese Art der Schriftlichkeit folgt anderen Prinzipien und dient anderen Zielen als die geschriebene Standardsprache. Michael Beißwenger, Professor für germanistische Linguistik und Sprachdidaktik an der Uni Duisburg-Essen, erläutert hier, wie der Deutschunterricht auf das Phänomen dieser neuen Schriftlichkeit eingehen sollte.

Laut KIM-Studie von 2014 nutzen 80 Prozent der 10- bis 11-Jährigen und 93 Prozent der 12- bis 13-Jährigen das Internet. Sind diese Zahlen noch aktuell?

Ich gehe davon aus, dass der Anteil der Internet- und Smartphone-Nutzer bei Jugendlichen weiter angestiegen ist. Für Schüler spielen digitale Medien eine riesige Rolle. Lehrpersonen müssen sich mit diesen Kommunikationspraxen  auseinandersetzen. Es hat sich ein Sprachwandel vollzogen: Schrift wird heute nicht primär nur für monologische Texte verwendet, sondern auch für die Freizeitkommunikation. Die Schrift hat also eine Funktionserweiterung erfahren.

Wie sieht diese Funktionserweiterung bei Jugendlichen aus?

Viele Formen der Kommunikation, die wir früher mündlich realisiert haben, werden heute schriftlich umgesetzt. Das ist gerade für Jugendliche sehr wichtig. Sie sind nicht so autonom wie Erwachsene. Es gibt die Eltern, die ihre Freiheit einschränken. Hier ist dann das Smartphone ein wichtiges Instrument, mit dem sich Jugendliche als autonom handelnde Individuen erfahren können. Auch dann, wenn sie die Freunde nicht treffen, können sie mit ihrer Gruppe in Kontakt treten. Und da diese Art der Schriftlichkeit anderen Prinzipien folgt und anderen Zielen dient, sieht sie auch anders aus als die geschriebene Standardsprache. Man kann die eine Art der Schriftlichkeit nicht gegen die andere ausspielen. Die Art, wie ich in einem Chat schreibe, ist für die Bedingungen schneller, dialogischer Kommunikation sinnvoll; für die Gestaltung einer monologischen Textäußerung ist sie nicht zielführend. Deshalb ist es wichtig, dass der Deutschunterricht Textkompetenz vermittelt. Die neue Art der Schriftlichkeit sollte aber im Unterricht aufgegriffen und in Beziehung zu den Normen für monologische Schriftlichkeit gesetzt werden.

Was ist der Unterschied zwischen „interaktionsorientiertem“ und „textorientiem“ Schreiben?

Das sind  zwei Konzepte, die die Sprachwissenschaftlerin Angelika Storrer (Uni Mannheim) in die didaktische Diskussion eingeführt hat. Das textorientierte Schreiben zielt darauf, eine sprachliche Äußerung zu produzieren, die vom Leser verstanden werden kann, ohne dass er die Produktionsumstände kennt und den Autor unmittelbar rückfragen kann.

Das interaktionsorientierte Schreiben beschreibt demgegenüber die neue Schriftlichkeit und die dort geltenden Normen. Hier schafft der Schreibende ein sprachliches Produkt, das typischerweise nur im Interaktionskontext und für die daran Beteiligten verständlich sein muss. Die Rahmenbedingungen sind ähnlich wie im mündlichen Gespräch: Die Rolle vom Leser zum Schreiber wird systematisch gewechselt, sodass jede Äußerung den Kontext  für mögliche Folgeäußerungen schafft. Charakteristisch für das interaktionsorientierte Schreiben in Chats sind geringe Planungszeiten, eine ökonomische Produktionsstrategie, ein liberaler Umgang mit bestimmten Bereichen der orthographischen Norm sowie die Verwendung von Emoticons, Emojis und netztypischen Akronymen.
 
„Schriftliche Kommunikation im Netz“ sollte Ihrer Meinung nach Teil des Deutschunterrichtes sein. Wie genau könnten Lehrer hier vorgehen?

Sicher muss der Lehrer den Schülern nicht beibringen wie man chattet. Stattdessen sollte er vermitteln, dass Schrift zu sehr unterschiedlichen Zwecken verwendet werden kann: einmal interaktiv und dialogisch, informell, im Freizeitbereich, auf der anderen Seite, um eine monologische Sprachäußerung zu produzieren. Deshalb sollte man sich immer bewusst sein, welche Normen gerade angemessen sind. Durch dieses Auseinandersetzen mit der neuen Schriftlichkeit kann man das Bewusstsein dafür schärfen, dass auch die Normen der geschriebenen Standardsprache eine Funktion erfüllen und nicht nur etwas sind, was man auswendig lernen muss.

Was ist die Herausforderung für Schüler? Was müssen sie beherrschen, um die verschiedenen Formen von Sprachlichkeit detailliert analysieren zu können?

Man kann hier an der Kommunikationswirklichkeit der Schüler ansetzen. Sie können Ausschnitte aus ihrer Chat- und WhatsApp-Kommunikation der Klasse vorstellen und erläutern, worum es  geht. So kann man erklären, was verstehensrelevante Hintergründe sind. Im Unterricht kann man dann gemeinsam entwickeln, dass die sprachliche Gestaltung von Äußerungen immer gebunden ist an folgende Fragen: Wer kommuniziert mit wem zu welchem Zweck auf Basis welcher Vorgeschichte und welches Vorwissens. Und: Inwiefern ändern sich die sprachlichen Gestaltungsanforderungen, wenn ich anstatt zu chatten einen Text für einen Adressaten schreibe, der nicht unmittelbar rückfragen kann? Generell kann man an diesem Gegenstand viel mehr thematisieren als „nur“ die Besonderheiten der digitalen Kommunikation – etwa den ganzen Bereich der Mündlichkeit und Schriftlichkeit.

Sollte das schon in der Grundschule geschehen oder erst in den weiterführenden Schulen?

Das ist ein gutes Thema ab Jahrgangsstufe 7 oder 8, wenn die Schüler bereits über grundlegende Kategorien für die Sprachanalyse verfügen. Wobei man das Thema auch schon Ende der Primarstufe behandeln kann. Es gibt 4. Klassen, in denen schon jedes Kind ein Smartphone hat.

Wie sehen die Herausforderungen für Lehrer in diesem Zusammenhang aus?

Man braucht als Lehrperson ein fundiertes Wissen zu Sprache und sprachlicher Variation und ein Bewusstsein dafür, dass Sprache nichts Statisches ist. Deshalb braucht der Lehrer ein fundiertes linguistisches Konzept- und Analysewissen, außerdem eine klare Vorstellung davon, wo er mit seinem Unterricht hin will. Mit authentischen Beispielen der Schüler arbeiten ist ein guter Einstieg. Man braucht aber auch Materialien, die Beispiele für Sprachverwendungen in verschiedenen digitalen Kommunikationsformen aufbereiten für den Unterricht.

Was muss hier in Zukunft noch passieren?

Auf jeden Fall sollte der Bereich in Lehrwerken systematisch berücksichtigt werden – nicht nur mit dem engen Fokus auf den sprachlichen Besonderheiten in digitaler Kommunikation, sondern auch in seiner Bedeutung für das Verhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit sowie als ein aktuelles, für Schüler lebensweltlich relevantes Beispiel für sprachliche Variation und sprachlichen Wandel. Außerdem ist es wichtig, Veranstaltungen anzubieten, bei denen Lehrer, die dieses Thema im Unterricht schon behandelt haben, zu Wort kommen, und ihre Erfahrungen austauschen können. Die Linguistik und Sprachdidaktik kann Datenbanken und Korpora aufbauen, die diese Art des Sprachgebrauchs dokumentieren und auf die Lehrer zugreifen können, um selbst Materialbeispiele zu gewinnen. Meine Erfahrung aus Gesprächen mit Lehrern im Rahmen zweier Klett-Fachtage Deutsch, ist, dass inzwischen Lehrpersonen jeden Alters bewusst ist, dass die Sprachverwendung in der digitalen Kommunikation ein Thema ist, an dem der Deutschunterricht nicht mehr vorbeikommt.

Autorin: Heide Grehl für den Klett-Themendienst 11/2016

Kompakt
Der Austausch getippter Nachrichten mit dem Handy und im Internet bildet für immer mehr Kinder und Jugendliche einen wichtigen Teil ihrer Alltagserfahrung und ihrer freizeitlichen Kommunikationspraxis. Die dabei produzierten sprachlichen Äußerungen laufen in vielfacher Hinsicht den Normerwartungen zuwider, die wir an schriftliche Texte knüpfen und die benötigt werden, um im Distanzbereich Verstehen zu sichern und erfolgreich sprachlich zu handeln. Der Deutschunterricht muss sich der Herausforderung stellen, die Besonderheiten der Sprachverwendung in der digitalen Kommunikation aufzugreifen: Schülerinnen und Schüler müssen in die Lage versetzt werden, zwischen unterschiedlichen Funktionen der Schriftverwendung und den daraus erwachsenden Gestaltungsanforderungen zu differenzieren.

Zur Person
Prof. Dr. Michael Beißwenger lehrt an der Universität Duisburg‐Essen
Germanistische Linguistik und Sprachdidaktik und forscht u.a. zur
internetbasierten Kommunikation sowie aktuell zum Einsatz von Wikis im
Deutschunterricht.

Zum Thema „Sprachwandel durch digitale Medien“ referiert Prof. Beißwenger in regelmäßigen
Abständen auf Lehrerveranstaltungen und Webinaren des Ernst Klett Verlages. Seinen Beitrag im Deutsch‐Blog finden Sie hier: http://deutsch-klett.de/chat-sms-und-co/