Klett-Themendienst Nr. 70 (02/2016)

(sl) 50 Grundschulen gehören zum Oberbergischen Kreis im Süden Nordrhein-Westfalens.
In einem unterscheiden sie sich nicht von anderen in Deutschland. Sie nehmen Flüchtlingskinder
auf. Das Besondere jedoch ist das „Wie“.

Von einer Idylle zu sprechen, wenn man ins Oberbergische kommt, ist ganz gewiss keine Übertreibung. Beliebt bei Touristen aus Nah und Fern, die reichlich Wald und Wasser schätzen. Beliebt bei den Einheimischen – sie schätzen einen Kreis mit geringer Arbeitslosigkeit. Und sie lieben die Ruhe. Und genau die ist es, die die Schulen zum Credo erkoren haben, wenn es um die Integration von Flüchtlingskindern geht.
Schulrätin Gabriele Zimmermann bringt es auf den Punkt: „Unsere Lehrkräfte lassen diese Kinder ankommen, an Seele gesunden, in Ruhe ihre Sprachhemmung abbauen und unterstützen sie, Sprachmotivation zu erzeugen.“ Dafür bekommen sie Zeit, soviel sie brauchen. Und das, obwohl sie von Beginn an die Regelklassen besuchen. An Klassenarbeiten und Noten müssen sie in den ersten zwei Jahren nicht denken. Und schon gar nicht wird von ihnen verlangt, dass sie am Tag X für alle festgelegte Sprachkenntnisse vorweisen. „Es ist ein Irrtum zu glauben, wenn man Kinder tagsüber mit Deutsch berieselt, käme abends auch Deutsch heraus“, sagt die Schulrätin. Sie und ihr Team sind überzeugt: Am besten lernen die Kinder im Kontakt mit ihren Mitschülern. In entspannter Situation fragen sie schneller, trauen sich. Die Pause ist so ein Moment.
Deren mögliche Strukturierung ist ein Baustein eines umfangreichen Portfolios. Es wurde von einem im Februar gegründeten Arbeitskreis konzipiert. In ihm arbeiten so genannte DaZ-Lehrkräfte (Deutsch als Zweitsprache) und stellten das Portfolio für den Umgang und die Arbeit mit Flüchtlingskindern zusammen. In einer Dropbox finden Pädagoginnen und Pädagogen zahlreiche Unterrichtsmaterialien, aber auch Musterbriefe in nahezu 20 Sprachen. Letztere tragen unter anderem dazu bei, Flüchtlingsfamilien über das deutsche Schulsystem aufzuklären. Aber sie enthalten auch konkrete Hilfen – so wie Entschuldigungsbriefe, wenn das Kind einmal der Grundschule fernbleiben muss.
Zu den Unterstützungsangeboten des Kreises für seine Schulen zählt auch ein engmaschiges Beratungsnetz.
Gebildet wurde es aus den DaZ-Lehrkräften. Sie reisen, aufgeteilt in vier Regionalgruppen, durchs Land und beraten die Schulen, inklusive der Nachmittagsbetreuung (OGS), vor Ort. Ob ein Kind die OGS besucht, sollte nach Ansicht von Gabriele Zimmermann von Fall zu Fall entschieden werden. „Ich bin gegen eine Einheitsphilosophie. Man muss jedem Kind anders begegnen – eines braucht die OGS, das andere am Nachmittag die Eltern.“ Diesen individuellen Blick auf jedes Kind erwartet sie ohnehin. „Schließlich sitzen in einer Klasse auch ohne Flüchtlingskinder ganz unterschiedliche Kinder. Hochbegabte und weniger Begabte, glückliche, aber auch zuhause Vernachlässigte“, weiß die Schulrätin.
Auch deshalb bestehe keinerlei Grund zu Hysterie, wenn nun Flüchtlingskinder hinzukämen. Im Kreis herrsche die notwendige Ruhe. Klagen von Eltern hiesiger Kinder – Fehlanzeige. Klagen oder gar Kündigungen von Lehrerinnen, wie es sie bundesweit angesichts der neuen Herausforderung bereits gab – Fehlanzeige. Ohnehin ist Gabriele Zimmermann davon überzeugt: „Wenn jetzt eine Lehrkraft hinwerfen will, hat das wohl nichts mit der aktuellen Situation zu tun, sondern eher damit, dass sie am gewohnten Bild von Schule festhalten will. Aber da, wo sich Gesellschaft entwickelt, entwickelt sich auch Schule.“
Und noch eines gibt sie den Pädagoginnen und Pädagogen mit auf den Weg: „Lehrerinnen und Lehrer sind keine Therapeuten.“ Dessen sollten sie sich stets bewusst sein und stattdessen jedes Kind beobachten, ihm sensibel begegnen und sich fragen, welche anderen Stellen und Professionen sinnvollerweise eingeschaltet werden sollten.
Ihre Gedanken und die ihres Teams flossen auch in die inhaltliche Gestaltung von neuen DaZ-Materialien des Klett Verlages ein. Heike Günther ist die dafür verantwortliche Redakteurin. Bei Hospitationen in Grundschulen und speziellen Vorbereitungsklassen hat sie hautnah das Zusammensein, das gemeinsame Leben und Lernen der Kinder verfolgt. Und gespürt, wie belastend die Situation für die Flüchtlingskinder sein kann. „Da sind Kinder dabei, die schon mit guten schulischen Vorkenntnissen kommen, aber auch solche, die keine zehn Minuten ruhig am Tisch sitzen, geschweige denn einen Stift halten können“, berichtet sie.
Zudem hat sie kulturelle Differenzen ausgemacht: „In den Klassen kommen zum Teil Kinder aus unterschiedlichen Kulturen und Religionen zusammen. Und sie sitzen jetzt an einem Tisch.“ Auch diese Situation müssen Lehrkräfte im Blick haben und gleichzeitig dazu beitragen, dass die Kinder einen Sprachschatz erwerben, der ihnen zunächst einmal den Alltag erleichtert („Ich habe Hunger“, „Wo ist die Toilette?“) und dauerhaft die problemlose Teilnahme am Unterricht ermöglicht. „Dafür sind gute Sprachbeispiele nötig. Kinder brauchen Personen, die bewusst vorsprechen und sanft korrigieren, etwa indem sie die in Nuancen falsche Formulierung des Kindes richtig wiederholen“, sagt Günther. Unterstützung finden Lehrkräfte in Wimmelbilder-Büchern, einer Lernkartei, Bildkarten, mit denen Sprachförderspiele gemacht werden können, sowie vier Arbeitsheften mit dem Titel „Deutsch lernen“.

Kompakt
Der Oberbergische Kreis zählt rund 300 000 Einwohnerinnen und Einwohner. Die 50 Grundschulen im Kreisgebiet werden von 9324 Schülerinnen und Schülern (Stand: Dezember 2015) besucht. Unter ihnen befinden sich 256 Flüchtlingskinder (Stand: Dezember 2015). Eine Arbeitsgruppe, bestehend aus DaZ-Lehrerinnen und -Lehrern, hat konkrete Hilfen für die Schulen zum Umgang mit Flüchtlingskindern erarbeitet. Darüber hinaus berät sie zum Thema Spracherwerb.