Klett-Themendienst Nr. 73 (11/2016)

(az) Stark in der Schule sein, reicht nicht aus, um das Leben zu bestehen − gerade Schüler der mittleren Schulformen brauchen mehr denn je Kompetenzen, um das eigene Leben durch wechselnde Umstände und stürmische Zeiten zu steuern. Doch was sind Schlüsselkompetenzen eigentlich und welche Rolle spielen sie im heutigen Fachunterricht?

Sei es in der Schule oder im Beruf – einmal erworbenes Wissen verliert heutzutage immer schneller seinen Wert. Viele Berufe büßen vor dem Hintergrund der digitalisierten Arbeitswelt ihre vertrauten Umrisse ein. Bankfilialen schließen, Kunden erledigen immer mehr Geschäfte über das Smartphone. Einfache Tätigkeiten wie Bargeld auszahlen oder Überweisungen entgegennehmen, werden immer weniger nachgefragt. Einige Banken seien mittlerweile ausschließlich nur noch über Telefon und Internet zu erreichen, berichtete die Frankfurter Allgemeine Zeitung 2015  („Die Banking-App braucht keine Lehre“).

Auch Anatol ist mit seinem mittleren Schulabschluss allein nicht geholfen. Der dreizehnjährige Schüler stammt aus Russland und liest derzeit Gregs Tagebuch − es handelt von einem Teenager, einem Antihelden, der selbstsüchtig, faul ist und Erwachsene sowieso nicht ernst nimmt. Anatol besucht die achte Klasse einer Realschule im Rhein-Sieg-Kreis und sucht die passende Ausbildung für die Zeit nach der Schule. Praktika will er bei einem Optiker, Immobilienmakler oder bei einer Bank absolvieren. Auf ein bestimmtes Berufsfeld kann er sich nicht festlegen: „Ich will vieles versuchen“, sagt Anatol.

Der Jugendliche benötigt etwas Umfassenderes: Kompetenzen, die ihm neben seinem erworbenen Wissen dabei helfen, lebensweltliche Situationen einschätzen und bewältigen zu können. Das heißt auch solche, die ihn fit machen in den Bereichen Teamfähigkeit, Höflichkeit oder Empathievermögen. Doch wo lernt er das?

Wer sich selbst kennt, lebt gesünder

Die World Health Organisation (WHO) hat im Jahr 1994 den Begriff der „Life Skills“ bzw.  Lebenskompetenzen geprägt. Unter Lebenskompetenzen versteht die WHO eine Reihe von psychosozialen Fähigkeiten, die es der Person ermöglichen, die alltäglichen Anforderungen und Probleme des Lebens erfolgreich zu bewältigen. Dazu gehören Lebenskompetenzen wie die Fähigkeit, sich selbst wahrzunehmen, Beziehungen einzugehen, kreativ zu denken, Probleme zu lösen, Entscheidungen zu treffen und Stress zu bewältigen. Lebenskompetenzen wiederum stehen in engem Zusammenhang zur Bildung als Voraussetzung dafür, sich in seinem Leben und der Welt zu orientieren. Das Kalkül der WHO: Wenn jemand wie Anatol sich selbst besser kennt, gestaltet er sein Leben wahrscheinlich auch aktiver und kreativer und ist besser in der Lage, schwierige Lebensphasen zu meistern.

Der Impuls, Life Skills nutzbringend in die Didaktik und damit in den Unterricht einzubinden ist relativ neu und kommt aus dem angelsächsischen Raum. Insbesondere für die mittleren Bildungsabschlüsse, die umfassend auf die Berufswelt vorbereiten wollen, ist es ein erfolgsversprechender Ansatz. Für Frank Haß vom Institut für Angewandte Didaktik kommen „die Life Skills im Fachunterricht heute jedoch noch viel zu kurz.“ Daher hat er, auch in seiner Funktion als Autor und Herausgeber von Lehrmitteln für den Englischunterricht, das Konzept der „Schlüsselkompetenzen“ entwickelt. Ein fachdidaktischer Ansatz, der sich problemlos auf alle Fächer übertragen lässt. Ausgegangen ist er dabei von einem Bildungsbegriff, der sich als Auseinandersetzung des Individuums mit sich selbst und seiner kulturellen und natürlichen Mit- und Umwelt versteht und Bildung als Kompetenzerwerb versteht. „Wir haben die Bildungsbegriffe mit den Life Skills abgeglichen und aus der Schnittmenge die Schlüsselkompetenzen identifiziert“, fasst Haß seinen Ansatz zusammen.

„Fit für die Schule und fürs Leben“

Die so ermittelten Schlüsselkompetenzen unterteilt Haß in Selbstkompetenzen, in soziale und in ökologische Kompetenzen. „Schlüsselkompetenzen sind Kompetenzen, die dem Individuum helfen, Zugänge zu sich selbst, zur Mitwelt und zur Umwelt zu finden, die also dazu beitragen, sich selbst und die Welt zu ‚erschließen'“, erläutert er. Selbstkompetenzen ermöglichen es, die eigene Persönlichkeit zu reflektieren und zu entwickeln. Soziale Kompetenzen kommen ins Spiel, wenn es darum gehe, die kulturelle Mitwelt mitzugestalten. Und ökologische Kompetenzen sind erforderlich, um verantwortlich mit der natürlichen Umwelt umzugehen.

Sich seine eigenen Stärken und Schwächen bewusst machen, Informationen analysieren und bewerten, positive Einstellungen zu Freunden und Familie entwickeln oder Beziehungen zu Fremden aufbauen. Das alles lässt sich z. B. im Englischunterricht sprachhandelnd erlernen, so umgesetzt in der Lehrwerksreihe Orange Line, Red Line und Blue Line an der Frank Haß als Herausgeber konzeptionell mitwirkt. Darin sind, teilweise gekennzeichnet mit einem Schlüsselsymbol, altersgerechte Übungen, Module und Materialien enthalten, über die die Schülerinnen und Schüler mittels Diskussionen, Brainstorming oder Rollenspiele an die verschiedenen Schlüsselkompetenzen herangeführt und trainiert werden. „Bin ich ein Star-Typ?“, „Wann bist du pünktlich?“ oder „Wie setze ich einen Notruf richtig ab?“ sind dafür nur einige Beispiele aus dem Englischunterricht.

Kurzum: Fit für die Schule und fit fürs Leben sein, ist kein Widerspruch − Schlüsselkompetenzen lassen sich auch in anderen Fächern wie Kunst oder Biologie erwerben. Am Anfang jeder Unterrichtsplanung sollte allerdings die Frage nach der Kompetenz stehen, die am Ende des Lernprozesses durch die Schüler erworben werde. „Zur Bewältigung welcher lebensweltlichen Situation sollten die Schüler befähigt werden?“, wäre dann eine angemessene Frage.

Projekte organisieren …

Zu Schlüsselkompetenzen in mittleren Schulformen zählt laut Ingrid Hartmann-Scheer, Lehrbuchautorin und ehemalige Fremdsprachenlehrerin, auch die Kooperation der Schüler im Klassenraum, etwa bei der Projektarbeit. „Schulabgänger sollten zumindest in kleinem Umfang Projekte selbstständig organisieren können − immer in Rückkopplung mit Lehrkräften“, so Hartmann-Scheer. Auch Berufsorientierung sieht sie als Teil der Vorbereitung auf das Leben. Das sei bei der Vielzahl der beruflichen Möglichkeiten heutzutage unentbehrlich und könne durch Kooperation von Schulen mit außerschulischen Partnern unterstützt werden.

Nicht nur die mittleren Schulformen, alle Schulformen einschließlich der Gymnasien seien gefordert, die Berufsorientierung fest zu verankern. Es ist schon viel gewonnen, wenn Anatol weiß, dass das kreative Berufsfeld für ihn nicht in Frage kommt. Beim Praktikum kann er feststellen, ob ein Architekt in der täglichen Arbeit wirklich so viel mit Kreativität zu tun hat. „Bestimmte Berufsfelder haben ein Renommee, dem die Realität nicht immer standhält“, erklärt Hartmann-Scheer. Ein immer größerer Zuwachs an Wissen erfordere nicht nur ein Wissen, wie man etwas macht, sondern auch Medienkompetenzen, etwa die Hinführung zu einer kritischen Betrachtung der Angebote im Internet.

… und sich richtig bewerben

Gerade weil Schlüsselkompetenzen übergreifend sind, kommt man nicht nur auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch im privaten Leben ohne sie kaum aus. Anatol könnte doch eines Tages arbeitslos werden. Dann sollten die Schlüsselkompetenzen ihn in die Lage versetzen, die Niederlage zu verkraften, eine positive Einstellung zu sich selbst und seinen Mitmenschen zu bewahren, aktiv zu werden und sich zeitgemäß zu bewerben. Ansonsten könnte sein Leben eines Tages eine Wendung nehmen wie das seines Comic-Helden Greg: als Lachnummer.

Autor: Arndt Zickgraf für den Klett-Themendienst 11/2016

Kompakt
Lebenskompetent laut WHO ist, wer sich selbst kennt und mag, empathisch ist, kritisch und kreativ denkt, kommunizieren und Beziehungen führen kann, durchdachte Entscheidungen trifft, erfolgreich Probleme löst und Gefühle und Stress bewältigen kann.

Buchtipp:
Das Konzept der Schlüsselkompetenzen wird z.B. im Lehrwerk Orange Line Band 3 (978-3-12-548173-2) eingesetzt. Mitschnitte zu den Webinaren mit Frank Haß, u.a. zum Thema Schlüsselkompetenzen, unter www.klett.de/lehrwerk/orange-line-2014.