"Vermisst: Marie, 6 Jahre, zuletzt gesehen mit 2 Flüchtlingskindern“, diese Falschmeldung oder neudeutsch "Fake News" kursierte vergangenes Jahr im Internet. Die Mutter des Mädchens war laut Vermisstenanzeige eine Mitarbeiterin der Universität Düsseldorf. "Bitte teilen, teilen, teilen", forderte die Anzeige zum Klicken auf. Wer dann auf den "Teilen"-Button klickte, landete auf einer zweifelhaften Webseite, die versuchte, Nutzer in eine Abo-Falle zu locken. Zu der Falschmeldung um die sechsjährige Marie ist auf der Internetplattform "So geht Medien" inzwischen eine Unterrichtseinheit zu finden. Dabei sollen Schüler zum Beispiel erkennen, wie man nach Quellen von Fake News fahndet und Fakten kritisch überprüft. Das ist nicht selbstverständlich, schließlich informieren sich Jugendliche überwiegend über Google, Facebook und You Tube − nur ein geringer Teil der Schüler nutzt journalistische Portale als Informationsquellen. "So geht Medien" ist eine Aufklärungskampagne der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten gegen Populismus, angeführt vom Bayerischen Rundfunk. Die Kampagne ist ein Hinweis darauf, dass der Druck von Populisten und Fake News-Produzenten hoch ist − und geeignete Unterrichtsmaterialien zum Thema rar sind.
"Degradierung zum Kombinationsfach"
Der richtige Ort, in dem Falschmeldungen von korrupten Politikern oder skrupellosen Geschäftemachern thematisiert werden könnten, wäre der Politikunterricht. Denn Fake News gehören, wie man vor der Wahl des US-Präsidenten im November 2016 erlebt hat, inzwischen zur Begleitmusik politischer Wahlen. Doch die politische Bildung fristet ein Schattendasein im Kanon der Schulfächer. Das fängt schon damit an, dass es keine einheitliche Benennung des Fachs in den Bundesländern gibt: Sozialkunde heißt das Fach etwa in Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen, Gemeinschaftskunde in Baden-Württemberg. Die Bezeichnungen ändern sich wiederum je nachdem, ob das Fach in der Sekundarstufe I oder in der Sekundarstufe II unterrichtet wird. "Kein anderes Schulfach leidet unter einem solchen begrifflichen Wirrwarr", erläutert Joachim Detjen, Politikwissenschaftler mit dem Schwerpunkt Didaktik der Sozialkunde, auf den Seiten der Bundeszentrale für politische Bildung. Ein weiteres Anzeichen für die schwache Verankerung von Politik in den gymnasialen Lehrplänen ist laut Detjen die Tatsache, dass das Unterrichtsfach in mehreren Bundesländern "eine Degradierung zum Kombinationsfach Politik und Wirtschaft erdulden" musste.
Die Deutsche Vereinigung für Politische Bildung (DVPB) fordert infolgedessen mehr und bessere politische Bildung an den allgemeinbildenden Schulen ab der fünften Klasse. "Nur wenn politische Bildung durchgehend unterrichtet wird, können sich Kinder und Jugendliche ein sachgerechtes Urteil zu den gegenwärtigen politischen, sozialen und ökonomischen Problemen bilden", so die DVPB. Dabei beruft sich die Vereinigung auf eine Untersuchung des Meinungsforschungsinstituts Infratest dimap im Auftrag des Deutschen Kinderhilfswerks: Danach haben sich 89 Prozent der befragten Erwachsenen für die Stärkung der politischen Bildung an Schulen ausgesprochen. Die DVPB fordert ein Pflichtfach für politische Bildung an allen allgemeinbildenden Schulen ab der fünften Klasse im Umfang von zwei Wochenstunden.
Mehr Zeit für politische Bildung in Schulen fordert auch Jörg Köchling, Lehrer für Politik und Katholische Religionslehre am Hans-Böckler-Berufskolleg in Münster und Fachleiter für beide Fächer am Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung in Gelsenkirchen. "Das Fach Politik wird stiefmütterlich behandelt, obwohl es Verfassungsrang genießt", sagt Köchling. "Die Erziehung zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung ist in allen Landesverfassungen verankert. Das Fach Politik darf also nicht beliebig durch Unterricht in Geschichte, Geografie oder Wirtschaft ersetzt werden." Doch die Wirklichkeit sieht so aus: "Das Fach ist Verschiebemasse im Stundenplan, es wird vielfach fachfremd unterrichtet oder es wandern Themen von der Wirtschaftslehre in den Politikunterricht", erläutert Köchling.
"Fake News sind Produkt und zugleich Herausforderung der digitalen Gesellschaft"
Vor dem Hintergrund von Fake News wird der Aufbau von Medienkompetenz im Politikunterricht immer wichtiger. Der Politikunterricht müsste sich auf die digitale Gesellschaft als Ausgangspunkt einstellen, sagt Köchling. Doch der Politiklehrer und Lehrwerksautor beim Ernst Klett Verlag geht noch einen Schritt weiter: "Das Leben der Schülerinnen und Schüler ist heute völlig durch die digitalen Medien geprägt. Da ist derzeit vieles in Bewegung." Der Aufbau von Medienkompetenz bedeutet im Unterricht nicht nur auf einer technisch-handwerklichen Ebene zu arbeiten, sondern Phänomene wie Fake News auch auf einer Metaebene grundsätzlich zu reflektieren. Fake News sind ja keine Falschmeldungen im Sinne von Zeitungsenten, sie werden mit der Absicht der Manipulation der öffentlichen Meinung bewusst eingesetzt.
Wann wird eine Information zur Nachricht? Welche politischen Motive oder Ideologien stecken hinter Fake News? Wie verändern Fake News politische Debatten? Was machen sie mit dem Menschenbild? Solche und weitere Fragen werden laut Köchling für den Politikunterricht bedeutsam. Fake News untergraben Grundlagen der politischen Meinungsbildung. Sie werden gern im Kontext populistischer und extremer politischer Positionen eingesetzt, die auch zunehmend in Äußerungen von Schülerinnen und Schüler Eingang in den Unterricht finden. Manchmal werde auch bewusst provoziert, so Köchling. Aufgabe des Politikunterrichts ist es laut Köchling, die Diskussionen zu versachlichen, indem eine gemeinsame Faktenbasis als Grundlage für Diskussionen im Fach Politik geschaffen wird: Die Meinungen mögen frei sein, die Fakten aber müssen stimmen − eine alte journalistische Regel.
Unterrichtsmaterialien fehlen
Unterrichtsansätze für politische Bildung stammen typischerweise von staatlichen Einrichtungen. Neben "So geht Medien" gibt es "Klicksafe", eine Aufklärungskampagne zur Förderung der Medienkompetenz im Auftrag der Europäischen Union, in Deutschland durchgeführt von der Landeszentrale für Medien und Kommunikation Rheinland-Pfalz und der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen. Auch die Bundeszentrale für politische Bildung mischt hier mit. "Diese Unterrichtmaterialien setzten auf einer technisch-handwerklichen Ebene an oder eignen sich für die Informations- und Erarbeitungsphase, aber sie reichen nicht aus", meint Jörg Köchling. "Fake News sind ein Beispiel für grundsätzliche politische Herausforderungen in einer digitalisierten Gesellschaft. Hier gilt es, mit den Schülerinnen und Schülern eine Grundhaltung zu unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung aufzubauen. Übrigens, eine Aufgabe aller Lehrerinnen und Lehrer – nicht nur im Fach Politik."
Arndt Zickgraf