Klett-Themendienst Nr. 78 (10/2017)

Die Mehrheit aller Schulen in Deutschland wird mittlerweile als Ganztagsschulen geführt. Aber welcher Ganztag ist besser: der offene und damit freiwillige oder der gebundene? Während es immer noch viele Kinder und Lehrer um 13:10 Uhr nach Hause zieht, stellen andere die Vorteile eines rhythmisierten Schultages bis 16:00 Uhr heraus

„Papa, bitte, ich möchte jetzt endlich ein Schlüsselkind werden.“ Ungehalten steht die zehnjährige Emma vor ihrem Vater. Der hat bei dem Begriff Schlüsselkind aus seiner Jugend etwas andere Bilder vor Augen als seine bittende Tochter. Emma argumentiert: „Ich will nicht mehr in der blöden Mensa essen, da ist es viel zu laut. Und ich will die Hausaufgaben lieber zuhause machen und mich nicht mehr von Frau Schmitz anmeckern lassen. Lisa und Sophie haben jetzt auch einen Haustürschlüssel“.

Wie in vielen Familien geben die Eltern von Emma letztendlich nach, ärgern sich aber, weil der offene Ganztag an Emmas Schule immer wieder zu Auseinandersetzungen in der Familie führt. Die Eltern brauchen aufgrund ihrer Berufstätigkeit eine gute und sichere Betreuung bis mindestens 15:30 Uhr, der Tochter und ihren Freundinnen gefällt es dort aber nicht. „Der verpflichtende Ganztag an unserer Schule würde zumindest dafür sorgen, dass wir Eltern nicht mehr diskutieren müssen“, sagt Emmas Mutter.

5 x 8 Stunden Mindestöffnungszeit

Geht es nach einer Interview-Studie unter mit Schulpreisen ausgezeichneten Ganztagsschulen, die von vier großen Stiftungen in Auftrag gegeben wurde, dann verliert die Unterteilung in gebunden oder offen, wie sie die Kultusministerkonferenz (KMK) definiert,  ihre Berechtigung. Die befragten Schulleitungen sprechen sich vielmehr dafür aus, dass sich bundesweit jede Ganztagsschule durch eine wöchentliche Mindestöffnungszeit auszeichnen soll. Diese sollte acht Zeitstunden an fünf Tagen in der Woche betragen (40 Stunden pro Woche), zum Beispiel von 8 bis 16 Uhr. Da das Wort Mindestöffnungszeit falsch verstanden werden könnte, erläutert Dr. Dirk Zorn von der Bertelsmann Stiftung: „Die Mindestöffnungszeit entspricht nicht einer verbindlichen Mindestteilnahmezeit für Schülerinnen und Schüler. Sie gliedert sich vielmehr in verpflichtende Kernzeiten und freiwillige Angebotszeiten.“

Alle befragten Schulen plädieren – mit dem Verweis auf eine höhere schulische Qualität – für das gebundene Modell innerhalb bestimmter, über den Unterricht hinausgehende Zeitfenster. Ihre Gründe: Qualität erreicht eine Ganztagsschule vor allem durch eine an den Bedürfnissen der Kinder angepasste Rhythmisierung des Tages, durch eine sinnvolle Verzahnung von Unterricht und ergänzenden Angeboten, durch die Kooperation verschiedener Professionen (zum Beispiel Lehrkräfte und Sozialpädagogen)  und durch eine gemeinsame pädagogische Grundorientierung. Und diese Bedingungen, so die Schulleiter, seien nun einmal in der Zeit von 8 bis 13 Uhr nicht so mit Leben zu füllen, dass Kinder und Lehrer gerne mehr Zeit in der Schule verbringen.     

Positive Effekte, wenn die Qualität stimmt

Mehr Zeit für Kinder, mehr Zeit für Lernen, mehr Zeit für Berufstätigkeit. Seit Anfang der 2000er Jahre wird das Ganztagsangebot an allen Schulformen kontinuierlich ausgebaut. Politiker und Pädagogen versprechen sich davon, dass der Ganztag herkunftsbedingte Nachteile der Kinder ausgleicht, ihre Leistungen, Stärken und Eigenheiten in den Blick nimmt und die Belange von Kindern und Eltern insgesamt stärker berücksichtigt. Die Längsschnitt-Studie StEG (Studie zur Entwicklung von Ganztagsschulen) relativiert allerdings den uneingeschränkten Optimismus, der häufig mit dem Ganztag verbunden ist.

Die Wissenschaftler kommen zu differenzierten Ergebnissen: Sie erkennen eindeutige positive Wirkungen auf soziale Kompetenz, Motivation und Selbstbild jener Kinder, die ein qualitativ gutes Ganztagsangebot nutzen, egal ob gebunden oder offen. Diese Effekte können sich  „auch auf den Schulerfolg auswirken, weil sich in Schulnoten nicht nur einzelne kognitive Kompetenzen, sondern auch die Motivation oder das Engagement der Schülerinnen und Schüler spiegeln.“ Prof. Dr. Eckhard Klieme, Sprecher des StEG-Forschungsverbundes, erläutert in einem Interview, worauf es bei guten Ganztagsangeboten ankommt: Eine Ganztagsschule bringt Vorteile, wenn sie entwicklungsfördernd ist „also gut strukturiert, unterstützend, mit herausfordernden und motivierenden Inhalten und Beteiligungsmöglichkeiten.“ Sein Fazit: „Man muss auf die Qualität der Angebote und die Intensität ihrer Nutzung durch die Schülerinnen und Schüler schauen“.

Inge Michels*, Klett-Themendienst

Kompakt
Gute Ganztagsangebote leisten viel für die Sozialisation von Kindern und Jugendlichen. Eine hohe Qualität fördert Sozialverhalten, Motivation, Selbstkonzept – und dies schlägt sich in letzter Konsequenz auf deren Leistungen nieder. Ob die gebundene Form hier stärker punkten kann als die offene, lässt sich nicht abschließend bewerten.
Lesetipps: Die Ergebnisse von StEG lassen sich hier nachlesen: www.projekt-steg.de/sites/default/files/StEG_Brosch_FINAL.pdf
Die Interview-Studie „Mehr Schule wagen – Empfehlungen für guten Ganztag“ steht zum Download auf den Internetseiten der jeweiligen Stiftung (Bertelsmann Stiftung, Robert Bosch Stiftung, Mercator Stiftung, Vodafone Deutschland Stiftung).

*Die Autorin hat an der Publikation der Studie mitgearbeitet