Klett-Themendienst Nr. 79 (12/2017)
Bildnachweis: Ernst Klett Verlag

Europabildung in der Schule: Je früher, desto besser

Europa als eigenständiges Thema – gibt es nicht Wichtigeres auf dem Stundenplan? Beispiele in Sachsen und Rheinland-Pfalz zeigen: die frühzeitige Auseinandersetzung mit Europa kann Feindbilder abbauen. Elternvertreter und Verbände fordern mehr Europa in der Schule.

Um 13.15 Uhr strömen die Mädchen und Jungen in die Europa-AG der Lessingschule in Leipzig. Heute finden sich neun Kinder im Computerraum ein. Das Thema in der AG lautet: „Europa als Kontinent auf der Weltkarte“. Die Schülerinnen und Schüler sollen Begriffe wie „Kontinent“, „Meere und Europa“ in die Suchmaschinen im Internet eingeben. Sie arbeiten allein oder zu zweit an ihren Plätzen. Auf einem Arbeitsblatt, auf dem der europäische Kontinent von Meer umgeben ist, tragen sie die Ergebnisse ein.


Die Motive der Mädchen und Jungen, an der Europa-AG teilzunehmen, sind unterschiedlich. Yara möchte wissen, wie Europa in der griechischen Mythologie behandelt wird. „Ich bin hier, weil ich mich mit anderen Ländern beschäftigen möchte, die es in Europa gibt, zum Beispiel Österreich“, sagt die neunjährige Elly. „Ich reise gerne  ̶  und wir können in der AG den Europatag organisieren“, so Lucia.
Die Europa-AG findet dreimal in der Woche jahrgangsübergreifend für die Stufen 1 und 2 sowie 3 und 4 statt. Ricarda Geidelt, Lehrerin an der Lessingschule in Leipzig, möchte möglichst vielen Kindern die Gelegenheit geben, sich mit Europa zu beschäftigen. Seit vielen Jahren besucht die Lehrerin mit Grundschülern auch europäische Länder. Finanziert werden die Schüleraustausche etwa durch EU-Programme wie Erasmus+.
„Wenn ich mich später einmal in einer fremden Stadt verlaufen sollte, kann ich auf Englisch nach dem Weg fragen“, erläutert Sophie, eine weitere Schülerin der Lessingschule. Zu jung für Europa fühlt sich die Zehnjährige nicht. „Viele denken mit den Kleinen könne man keine Reisen nach Finnland, Schottland oder Spanien machen“, sagt Geidelt.


Es gehen viele Jahre verloren


Die Lessingschule ist eine der wenigen Grundschulen in Sachsen, die auch Europaschule ist. Interkulturelles Lernen findet hier in allen Fächern statt. Europa zieht sich wie ein roter Faden durch den Unterricht und das Schulleben in der Lessingschule. Oft fragen Eltern Ricarda Geidelt, ob es in der weiterführenden Schule für ihre Kinder auch Europabildung gäbe. „Das wird von Eltern als Qualitätsmerkmal wahrgenommen, das höre ich immer wieder“, sagt sie. Doch nicht selten reißt der Faden der Europabildung beim Übergang von der Grundschule zur weiterführenden Schule. „Die Kontinuität von Europabildung in der Grundschule von der weiterführenden Schule ist oft nicht gegeben. So verstreicht wertvolle Zeit, eine Zeit, in der das Potenzial von kleinen Europäern, aus denen große Europäer werden könnten, ungenutzt bleibt“, bedauert Geidelt.


In Sachsen gibt es laut dem Bundesnetzwerk Europaschulen 35 Europaschulen. Nordrhein-Westfalen zählt danach die meisten, nämlich 207 Europaschulen. Auf den Webseiten des Netzwerks Europaschulen sind insgesamt rund 640 Europaschulen verzeichnet. In Deutschland gibt es rund 33.500 allgemeinbildende Schulen  ̶   das heißt, nur ein sehr geringer Anteil der allgemeinbildenden Schulen sind Europaschulen.
Nun sieht die Empfehlung der Kultusministerkonferenz (KMK) über die „Europabildung in der Schule“ vor, dass ein europäisches Bewusstsein in allen Schulen gebildet wird. Die Auseinandersetzung mit Fragen Europas und seiner Entwicklung in allen Bildungsgängen ist laut der Empfehlung der KMK sogar verpflichtender Bestandteil der Fächer Geschichte und Politische Bildung sowie der Fächer mit geographischen, wirtschafts- und rechtskundlichen Inhalten. Doch haben Lehrkräfte allgemeinbildender Schulen bei ihrer derzeitigen Belastung zum Beispiel durch die Integration von Flüchtlingen genug Kapazitäten frei, um noch ein europäisches Bewusstsein bei einer nennenswerten Zahl von Schülerinnen und Schülern verankern zu können?


Mehr Europaschulen gegen Feindbilder


Stefan Wasmuth, Vorsitzender des Bundeselternrates (BER) ist nicht zufrieden mit der Situation. „Ich würde es begrüßen, wenn es mehr Europaschulen gäbe, weil dadurch Feindbilder abgebaut würden oder gar nicht erst entstehen“, so der Elternvertreter. Es müsste früher und mehr über Europa in den Schulen gemacht werden. Gerade in der Grundschule sei es sinnvoll, dass Kinder Gelegenheit bekämen, sich mit Europa zu beschäftigen. „Je früher, desto besser  ̶  in der Grundschule machen Kinder noch keine Unterschiede zwischen der ethnischen Herkunft.“
Auch der Verband Bildung und Erziehung plädiert dafür, dass der Europabildung in allen Bundesländern ein größerer Stellenwert zukommen sollte. „Sowohl in Grundschulen als auch in weiterführenden Schulen sollte Europabildung wichtig sein. Als fester Bestandteil des Lehrplans wird sie interdisziplinär vermittelt und muss als gemeinsame Aufgabe des Kollegiums verstanden werden“, so Udo Beckmann, Bundesvorsitzender des Verbandes Bildung und Erziehung. Doch viele Schulen haben andere Prioritäten als das europäische Bewusstsein ihrer Schülerinnen und Schüler. Nicht so die Anne-Frank-Schule in Mainz.


Demokratieerziehung in Brüssel


Die Anne-Frank-Schule ist eine Realschule plus  ̶  und seit 2015 auch Europaschule. Wie viele Haupt- und Realschulen hat die Anne-Frank-Schule einen hohen Migrantenanteil. „Europa hat für mich persönlich die Bedeutung von Frieden, Demokratie und Partizipation“, so Schulleiter Ralf Früholz. Doch Frieden, Demokratie und Partizipation würden sich im Alltag einer solchen Realschule nicht von selbst einstellen. Bevor die Anne-Frank-Schule Europaschule wurde, sei Europa bei den Schülerinnen und Schülern allenfalls als Wort bekannt gewesen, meint Früholz. Was jedoch hinter der EU stecke, die Geschichte, der politische Gedanke, die gemeinsamen Werte, sei für die Schülerinnen und Schüler völlig uninteressant gewesen.


„Es ist wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler respektvoll miteinander umgehen, andere Länder und Sitten kennen lernen und diese im demokratischen Sinne auch akzeptieren“, so Ralf Früholz. Das koste Zeit und Kraft und müsse vom ganzen Kollegium orchestriert werden. Seit die Anne-Frank-Schule Europaschule ist, hätten sich die Schülerinnen und Schüler intensiv mit dem Gedanken der Demokratie auseinandergesetzt und besäßen eine Grundkenntnis darüber, wie Politik funktioniert. Dazu trügen Besuche mit den Lehrkräften der Schülerinnen und Schüler zum Beispiel in Brüssel und Straßburg bei. Auf diese Weise habe populistisches Gedankengut überhaupt keine Chance Wurzeln zu schlagen, erklärt Schulleiter Früholz.

Buchtipp:
TERRA Europa, Themenband Klasse 10 - 13, ISBN: 978-3-12-104703-1
Unser Heimatkontinent steht unter Stress – Erfolge und die Schattenseiten, Integration und Zerfallstendenzen, Wirtschaftsräume die blühen, aufholen oder abzudriften drohen. Aus dem Inhalt: Europa – zwischen Integration und Zerfall? Europa – Migration und Bevölkerung sowie Nutzung und Gefährdung Wirtschaftsraum Europa.
https://www.klett.de/produkt/isbn/978-3-12-104703-1


Artikel als PDF downloaden: Europabildung in der Schule: Je früher, desto besser (application/pdf 86.3 KB)


Artikel empfehlen: