Klett-Themendienst Nr. 83 (06/2018)

Viele Kinder erreichen die Mindestanforderungen im Kompetenzbereich Lesen heute nicht. Sogenannte Lesementoren arbeiten mit einem Kind einmal die Woche eine Stunde lang – bundesweit tragen so 11 000 Mentoren ehrenamtlich zum Schulerfolg bei.

Ein Erwachsener kümmert sich eine Schulstunde um ein Kind – das ist das Prinzip der Mentoren. Bundesweit gibt es 11 000 ehrenamtlich arbeitende Erwachsene, die Mädchen und Jungen vor allem im Alter von acht bis elf Jahren auf diese Weise beim Lesen helfen. Die Kinder für die Einzelbetreuung werden von der Schule ausgewählt, sie haben Probleme mit dem Lesen und Verstehen von Texten. Manche können b und d nicht auseinanderhalten, andere verwechseln ei und ie. Viele müssen sich sehr auf einzelne Buchstaben konzentrieren und können so weder flüssig lesen noch den Sinn verstehen. Nicht selten stolpern sie über unbekannte Wörter: Was ist eine Primel, was ein verdutzter Vater? Dann begeben sich Lesementor und Schützling gemeinsam auf die Suche nach der Bedeutung, z.B. in Wörterbüchern. Oberstes Ziel: Das Lesen soll Spaß machen.
„Wichtig ist die Abwechslung. Man sollte sich bei der Bücherauswahl nach den Hobbys richten. Ein Junge bei mir mag Krimis – wenn er den Täter rauskriegt, ist er stolz wie Oskar“, sagt Barbara Bodmann. Die ehemalige Berufsschullehrerin ist seit drei Jahren Mentorin in Celle und hat in dieser Zeit viele Kinder erlebt, die durch ihre Betreuung im Unterricht  flüssiger und ohne Scheu lesen. Gleichzeitig betont Bodmann: „Man darf Kinder nicht überfordern. Wenn die Konzentration nachlässt, erzählen wir einfach oder spielen miteinander.“

Nach aktuellen Studien, wie zuletzt die IQB-Bildungstrends 2016, erreichen im Landesdurchschnitt knapp 12,5 Prozent aller Kinder nicht die Mindestanforderungen im Kompetenzbereich Lesen, d.h. jeder achte Viertklässler in Deutschland kann nicht richtig lesen. Warum haben immer mehr Kinder Probleme mit dem Lesen? Das beschrieb die Kinderbuchautorin Kirsten Boie kürzlich in der Zeit: „Wer mit Lehrern spricht, weiß, dass sie sich alle Mühe geben, aber selbst die Engagiertesten verzweifeln. An den Grundschulen müssen die Lehrer sich ja längst nicht mehr nur ums Lesen kümmern. Da geht es um die Inklusion behinderter Kinder, um die Integration Geflüchteter, um Schüler/-innen mit einer massiv gesunkenen Konzentrationsspanne. […] Das Lesenlernen hat noch immer kein Priorität.“

„Die Anforderungen in den Grundschulen sind in den letzten Jahren höher geworden. Zudem wird in immer weniger Familien vorgelesen“, lautet auch die Antwort von Cornelia Sunderkamp vom Mentorenverein Paderborn. Dort sind an 20 Schulen 120 Mentoren aktiv, vor allem Rentnerinnen. Die Lesehelfer bekommen anfangs eine eintägige Einführung und können sich regelmäßig zum Erfahrungsaustausch treffen.
„Der Bedarf wächst, ich bekomme ständig Anfragen von Lehrern. Deswegen sind wir immer auf der Suche nach neuen Mentoren“, sagt Inge Lange, die den Einsatz der Mentoren in und um Nordhorn koordiniert. Eine pädagogische Ausbildung ist nach ihren Worten nicht nötig. Wichtig sei Geduld und Herzlichkeit: „Man muss nur lesen können und Kinder mögen.“

Lange beginnt häufig zusammen mit dem Kind einen Text zu lesen und wird dann immer leiser. Sie versucht herauszufinden, was es davon verstanden hat – aber nicht über Abfragen, sondern z.B. mit Hilfe von Rätseln am Ende einer Geschichte. Doch es geht auch um das einfache Gespräch über den Alltag. „Die Kinder sind stolz, dass sich ein Erwachsener für sie alleine so viel Zeit nimmt, das kennen sie sonst kaum“, berichtet Lange, die früher als Ausbilderin bei der Telekom gearbeitet hat. Sie fügt hinzu: „Wenn sie sich an den Mentoren gewöhnt haben, dann sind sie mit Eifer dabei. Ihr Selbstbewusstsein wächst und sie beteiligen sich schon nach kurzer Zeit viel mehr am Unterricht.“
Christiane Frese koordiniert in Pinneberg und Umgebung den Einsatz der 170 Mentoren in 28 Schulen. Sie erlebt immer wieder, dass nicht nur die Kinder, sondern auch die Erwachsenen mit der Zeit viel lernen: „Sie entwickeln Empathie, können Probleme eher lösen und bekommen ein größeres Selbstwertgefühl. Der Kreis Pinneberg hat den Mentoren seinen Ehrenamtspreis verliehen, da war die Freude über diese besondere Anerkennung groß.“ Als ein Junge mit großen Leseproblemen nach intensiver Betreuung einen Lesewettbewerb an seiner Schule gewonnen habe, seien bei den Mentoren vor Rührung die Tränen gelaufen.

Frese organisiert Fortbildungen zu Themen wie ADHS und Legasthenie. Dabei versucht sie Mentoren die Angst vor Überforderung zu nehmen: „Bei uns braucht niemand spezielle Vorkenntnisse, denn als Ansprechpartner sind die Lehrer immer da. Kinder mit einer Lernstörung müssen von Spezialisten betreut werden. Der Mentor kann auch keine Probleme außerhalb der Schule lösen, er ist kein Berater für die Eltern.“ Eltern müssen der Leseförderung durch Mentoren zustimmen, die immer in der Schule stattfindet – teilweise parallel zum Unterricht am Vormittag, teilweise als Angebot der Ganztagsschule am Nachmittag.

Und was sagen die betreuten Kinder? Flora liest am liebsten die Kinderzeitung, die ihre Mentorin Barbara Bodmann immer mitbringt. In der neuesten Ausgabe geht es um „Die Marienkäfer sind unterwegs“. „Können wir die Scherzfrage machen?“, fragt Flora und liest vor: „Was fliegt schneller: Marienkäfer oder Schnellzug?“ Auf die Antwort: „Ein Schnellzug“ entgegnet sie mit gespielter Entrüstung: „Nein, ein Schnellzug kann nicht fliegen!“ Bodmann freut sich, dass Flora bei der Frage mit der Stimme nach oben gegangen ist und sie richtig betont hat. Flora freut sich, dass ihre Mentorin mit ihr beim Lesen gerne Späße macht. Dazu gehört, dass Bodmann eine Stoffeule in die Hand nimmt und mit veränderter Stimme auf einmal ganz schlecht liest, während das Mädchen die Lehrerinnenrolle übernimmt und die Fehler korrigiert. Gerne begibt sie sich in den Texten auf die Spur nach einzelnen Buchstaben, um mit ihnen das Lösungswort für kleine Kreuzworträtsel herauszubekommen. Nach einer Schulstunde ist die Zeit rum und Flora muss ihre Sachen einpacken. „Schade, dass wir nicht weitermachen können“, lautet ihr Kommentar.
Flora liest mittlerweile so gut, dass sie im nächsten Schuljahr keine Extrabetreuung mehr benötigt. Dieses Lob aus dem Mund von Bodmann hört sie allerdings gar nicht gerne: „Dann muss ich wohl wieder schlechter lesen, damit ich weiter zu Dir kommen darf!“

Autor: Joachim Göres

Kompakt
2003 initiierte der Buchhändler Otto Stender aus Hannover die Mentor-Bewegung. Seitdem wurden mehr als 90 000 Schüler individuell von einem ehrenamtlich arbeitenden Mentor beim Lesen gefördert. Dabei geht es nicht um Nachhilfe, sondern die Kinder sollen mit Freude lesen. Unter www.mentor-bundesverband.de finden sich die rund 300 Orte, an denen es Lesementoren gibt.

Buchtipp:
Die Reihe Zebra Lesebuch 1 (978-3-12-270922-8) setzt den Schwerpunkt auf den Kompetenzbereich Lesen. Darin lernen Grundschüler mit Texten und Aufgaben auf drei verschiedenen Niveaustufen. Extra-Lesetrainings unterstützen den Erwerb der Lesefähigkeiten und passende Hörtexte und kindgerechte Erklärfilme am Ende der Kapitel vertiefen Lesestrategien und Lesemethoden.
https://www.klett.de/produkt/isbn/978-3-12-270922-8?searchQuery=270922