Klett-Themendienst Nr. 84 (10/2018)

„Hild“ oder warum Schulen sich beeilen, das Plattdeutsche zu retten

Die Plattdeutschsprecher werden immer älter, zuhause wird das Plattdeutsche von der hochdeutschen Sprache verdrängt. Mit Modellprojekten versuchen Grundschulen in mehreren Bundesländern, das Plattdeutsche zu erhalten. Reicht das aus?

„Ich bin hild, aber ich wäre gerne mehr suutje“, sagt Jan Niemann. „Hild“ bedeutet eilig auf platt und „suutje“ gemächlich. Doch gemächlich geht es bei ihm nicht zu. Denn Jan Niemann hat es eilig. Der 42-jährige Lehrer der Grundschule Hohenaspe in Schleswig-Holstein hat zwar Deutsch, Geschichte und Religion studiert. Aber er ist damit ausgefüllt, Kinder von der ersten bis zur vierten Klasse in Plattdeutsch zu unterrichten. Acht Unterrichtsstunden Plattdeutsch oder für jede Stufe zwei Unterrichtsstunden. Es ist, als wollte er möglichst viel bewegen, um dem Plattdeutsch wieder Leben einzuhauchen. „Es hat sich vorher in den Schulen kaum etwas getan“, begründet der Lehrer sein Tempo.


Die Liste der Aktivitäten ist lang, um das Plattdeutsche an der Grundschule Hohenaspe wiederzubeleben: Eine Plattdeutsch-Oma von über 80 Jahren hilft ihm im Klassenzimmer. Die alte Dame wacht darüber, dass die Kinder das Plattdeutsche im Unterricht oder der AG richtig aussprechen. Einen Plattdeutsch-Freitag hat Niemann an der Grundschule Hohenaspe eingeführt: An diesem Tag wird fächerübergreifend Plattdeutsch unterrichtet und gesprochen. Darüber hinaus spielt Niemann Theater auf platt mit den Grundschulkindern. Er hat die Bilderbuchfigur „Grüffelo“ auf platt inszeniert und tritt mit den Schülern im Dorf und in der näheren Umgebung auf. Mithilfe einer App hat er verschiedene multimediale Lernbausteine entwickelt, die den Plattdeutsch-Unterricht ergänzen. Häufig setzt er dafür QR-Codes ein, welche die Schüler direkt zum entsprechenden Lernmodul im Internet bringen.


Plattdeutsch ist auf der Straße oder im Klassenzimmer wenig zu hören. „Der Bestand des Niederdeutschen in Norddeutschland ist gefährdet“, warnte der Bundesrat für Plattdeutsch schon im Jahr 2009. Dem Bundesrat gehören Vertreter aus acht Bundesländern an, in denen das Niederdeutsche oder Plattdeutsche noch gesprochen wird: Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Bremen, Hamburg, Schleswig-Holstein, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen. Plattdeutsch oder wissenschaftlich gebräuchlicher, Niederdeutsch, mangelt es Studien zufolge an Sprachbeherrschung: Während die Hälfte der Menschen in Norddeutschland das Plattdeutsch gut bis sehr gut versteht, wird es nur noch von jedem Siebenten fließend gesprochen. Diejenigen, die im Plattdeutschen sattelfest sind, gehen auf die Achtzig zu. Ist das Plattdeutsch noch zu retten? Und wenn ja, wie kann es gerettet werden?


Modellprojekte gegen Plattdeutschschwund


Die Grundschule Hohenaspe ist eine von 30 Grundschulen von Schleswig-Holstein, an denen Plattdeutsch im Unterricht und in einer AG gesprochen wird. Um das Niederdeutsche zu erhalten und zu pflegen hat Schleswig-Holstein im Schuljahr 2014/2015 ein Modellprojekt ins Leben gerufen, bei dem an ausgewählten Grundschulen ein verpflichtendes Niederdeutschangebot eingerichtet wurde. Der organisatorische Rahmen: zwei Unterrichtsstunden pro Jahrgang und Woche, Unterricht in Plattdeutsch von der ersten bis zur vierten Klasse. Grundlage für den Unterricht sind dabei das Lehrwerk „Paul un Emma snackt plattdüütsch“ und neuerdings das Lehrwerk „Paul un Emma un ehr Frünnen“. Herausgegeben werden die Schulbücher von der Abteilung für Niederdeutsche Sprache und Literatur und ihre Didaktik der Universität Flensburg. „Das ist ein Meilenstein für die Lehrkräfte“, sagt Robert Langhanke, Experte für die niederdeutsche Sprache am Institut.


In Nordrhein-Westfalen hat die Bezirksregierung Münster ein Modellprojekt zur Wiederbelebung des Plattdeutschen angestoßen. Sechs Schulen haben für fünf Jahre Stundenanteile im Umfang von einer Stelle, um Lehrer in Plattdeutsch fortzubilden. Es gibt Platt-Arbeitsgemeinschaften an acht Grundschulen. Bei diesem Schulversuch werden zwei Spielarten des Plattdeutschen in den Blick genommen: Kleiplatt, das von Warendorf bis Coesfeld gesprochen wird und westlich davon das sogenannte Sandplatt. Das Modellprojekt wird von der Universität Münster begleitet, die Unterrichtsmaterialien entwickelt, die von den Schulen frei genutzt werden dürfen. Weitere Modellprojekte haben Niedersachsen und Mecklenburg-Vorpommern ins Leben gerufen. Hintergrund für die Aktivitäten in den norddeutschen Bundesländern ist die EU-Charta für Regionalsprachen und Minderheiten. Die Bundesrepublik hat die EU-Charta bereits im Jahr 1992 unterzeichnet. Viele Jahre ist nichts passiert. Seit etwa 2014 kommt Bewegung in die Sache.


Kinder mit Migrationshintergrund lernen Plattdeutsch besonders gut


Absolventen der Abteilung für Niederdeutsche Sprache und Literatur und ihre Didaktik der Universität Flensburg haben die Auswirkungen des Modellprojektes in Schleswig-Holstein in einer Abschlussarbeit untersucht. Die Fähigkeiten und Fertigkeiten von 2080 Schülerinnen und Schülern in der niederdeutschen Sprache standen auf dem Prüfstand. Danach schätzen die Lehrkräfte, dass die größten Lernzuwächse im Hören und Hörverstehen zu verzeichnen sind, an zweiter Stelle stehen Lernzuwächse im Sprechen. Je häufiger das Platt gesprochen, gelesen und geschrieben wird, desto höher schätzen die Lehrkräfte den Lernerfolg in Plattdeutsch ein. Die Möglichkeit, einen Beitrag zum Erhalt des Plattdeutschen und zur niederdeutschen Kultur zu leisten, motiviert die Lehrkräfte am meisten. Darüber hinaus geht es auch um mehr Lehrerstunden und die öffentliche Anerkennung. „Mehrere der interviewten Lehrpersonen berichteten, dass Niederdeutsch ein Lieblingsfach ihrer Schüler sei“, schreiben Caroline Bruhn und Alexander Radloff, die Autoren der breit angelegten Studie aus dem Jahr 2017.


Auch Kinder mit Migrationshintergrund haben Spaß am Plattdeutschen. „Gerade Kinder mit Migrationshintergrund lernen das Platt besonders gut“, sagt Robert Langhanke von der Niederdeutschen Abteilung der Universität Flensburg. Er begründet das damit, dass diese Kinder einen „Lernvorteil“ haben, da sie mit dem Lernen einer neuen Sprache bereits vertraut wären. Das ist so ähnlich wie bei dem Erlernen eines Musikinstruments: Wer schon Flöte spielen kann, dem fällt es leichter, Klavier oder Gitarre zu lernen.


„EU-Charta ist der Motor“


Das Modellprojekt in Schleswig-Holstein an Grundschulen hat etwas bewirkt: Es gibt Fortschritte, was die Sprachbeherrschung des Plattdeutschen anbelangt. „Erstaunlich, wie wenig die Kinder zuerst verstehen und wie viel sie bereits nach einem Jahr können“, bestätigt Jan Niemann von der Grundschule Hohenaspe. Doch ist das Plattdeutsch damit zu retten? „Gerettet wäre zu viel gesagt, es wird unterstützt, gefördert, es zeigt Präsenz“, sagt Robert Langhanke. „Niederdeutschlehrer werden gesucht“, sagt der Forscher und ergänzt: „Die EU-Charta ist der Motor dahinter, die sprachpolitische Verpflichtung entfaltet ihre Wirkung“. Parteiübergreifend sei in Schleswig-Holstein eine positive Einstellung zum Platt erkennbar. Es gebe die sprach- und bildungspolitische Forderung, das Plattdeutsche durchgängig von der Kita über die Schule bis hin zur Universität zu fördern. Um die EU-Charta weiter mit Leben zu füllen, müssten noch mehr außerschulische Erlebnisorte gefunden werden, Medien und der öffentlich-rechtliche Rundfunk müssten das Angebot verstärken, Verlage, sich an die Unterstützung des Plattdeutschen herantrauen. „Wir brauchen eine kreative Medienkulisse für das Plattdeutsch, damit es sich stabilisiert“, ist das Fazit von Robert Langhanke.


Autor: Arnd Zickgraf

Kompakt
Welche Dialekte wo in Deutschland gesprochen werden und wie sie klingen:
Deutsche Welle: https://www.dw.com/de/eine-deutschlandreise-f%C3%BCrs-ohr/a-4230751
Universität Salzburg: http://www.atlas-alltagssprache.de/
Dialektkarte: http://www.dialektkarte.de


Artikel als PDF downloaden: „Hild“ oder warum Schulen sich beeilen, das Plattdeutsche zu retten (application/pdf 145.0 KB)


Artikel empfehlen: