Klett-Themendienst Nr. 84 (10/2018)

Die bundesweite Initiative „Schule gegen sexuelle Gewalt“ will Schülerinnen und Schüler besser vor Missbrauch schützen. Lehrkräfte sind häufig die ersten Ansprechpartner für Betroffene – und nicht selten auch die Täter.

Dürfen Lehrer Schülerinnen und Schüler nach einem Sportturnier umarmen? Eine von vielen Fragen, die Johannes-Wilhelm Rörig von verunsicherten Eltern und Pädagogen gestellt bekommt. „Im Prinzip ja, aber solch eine Geste darf nicht für eine sexuelle Berührung genutzt werden“, lautet die Antwort des unabhängigen Bundesbeauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. Was ist, wenn ein Lehrer ein Mädchen unabsichtlich am Gesäß berührt? „Dann sollte er sich entschuldigen und der Schulleitung Bescheid sagen.“ Sind Fotos beim Umkleiden in der Sportkabine erlaubt? Hier ist seine Antwort kurz: „Nein!“

Rörig hat ein Schutzkonzept mitausgearbeitet, das 2016 in Nordrhein-Westfalen unter dem Namen „Schule gegen sexuelle Gewalt“ startete und bis Ende dieses Jahres in allen Bundesländern gelten soll. Es sieht u.a. die Einrichtung einer Beschwerdestelle an der Schule vor, an die sich betroffene Schüler wenden können. Lehrer sollen Fortbildungen angeboten werden, damit sie wissen, was sie tun können, wenn sich ihnen ein Schüler anvertraut. Bestandteil ist auch das Aufstellen eines Interventionsplans, in dem geregelt wird, wie bei einem Verdachtsfall auf sexuellen Missbrauch vorzugehen ist. Sollte sich der Verdacht gegen eine Lehrkraft als unbegründet herausstellen, ist ein Rehabilitationsverfahren einzuleiten, damit der beschädigte Ruf wiederhergestellt wird. Schließlich sollen die Pädagogen einen Verhaltenskodex für ihre Schule erarbeiten, um festzulegen, welches Verhalten gegenüber Schülern erlaubt ist – das kann u.a. private Kontakte zu Schülern und den Umgang mit Fotos und sozialen Netzwerken betreffen. „Wir wollen alles dafür tun, dass Schule kein Tatort wird, sondern Schutzort“, sagt Rörig.

Dies scheint auch nötig, wenn man Jörg Fegert zuhört. Er ist ärztlicher Direktor der Kinder- und Jugendpsychiatrie an der Uniklinik Ulm. Nach seinen Angaben haben in Deutschland in der Altersgruppe der 18-29-Jährigen 13 Prozent der Frauen und 7 Prozent der Männer sexuellen Missbrauch als Minderjährige erlebt. Bei einer Auswertung von 6000 Opferberichten gab es 1320 Fälle, in denen Minderjährige von Erwachsenen in Institutionen missbraucht wurden. 22 Prozent dieser Fälle kamen in Schulen oder Internaten vor. Zu über 90 Prozent waren die Täter Männer, selten handelte es sich um Einzelfälle. „Die Täter sind oft empathisch, haben einen Blick dafür, welches Kind Aufmerksamkeit sucht. Sie schaffen z.B. durch Nachhilfe Gelegenheiten, bauen gezielt Schamgrenzen ab, erzeugen bei Kindern durch Manipulation Schuldgefühle und setzen sie unter Druck, damit sie schweigen“, sagt Fegert. Kinder hätten oft das Gefühl, mitgemacht zu haben und dafür bevorzugt behandelt worden zu sein – umso schwieriger sei es für sie, darüber zu sprechen.

17 Monate braucht ein Betroffener laut Fegert im Schnitt, um sich einem anderen Menschen anzuvertrauen. „Ich sage Dir was, aber Du darfst nicht darüber sprechen“ – ein Satz, den Fegert immer wieder hört. „Das Versprechen kann ich Dir nicht geben“, lautet seine Antwort, mit der er gute Erfahrungen gemacht hat: „Die Kinder vertrauen sich einem trotzdem an, aber sie fühlen sich nicht verraten, wenn man aktiv wird.“ Fegert empfiehlt Vertrauenspersonen die genaue Dokumentation des Falles – möglichst wörtliche Wiedergabe, keine Interpretation, keine suggestiven Fragen. Wichtig sei letztlich eine offene Atmosphäre an der Schule, an der das Thema Sexualität und sexueller Missbrauch kein Tabu sein dürfe. „Bei Befragungen sagen 90 Prozent der Eltern, dass in Schulen und Kitas über sexuellen Missbrauch gesprochen werden soll, nur eine kleine Minderheit lehnt dies ab“, so Fegert. Er betont die wichtige Rolle der Schule: Lehrkräfte seien bevorzugte Erstansprechpartner für Betroffene, die häufig keine Unterstützung in ihrer Familie hätten.

Das niedersächsische Kultusministerium empfiehlt Schulleitern bei dem Verdacht von sexuellen Übergriffen durch Schulpersonal die Meldung an die Landesschulbehörde, die dann bei hinreichendem Verdacht Strafanzeige erstattet. Bei sexuellen Übergriffen im außerschulischen und häuslichen Bereich soll bei Hinweisen auf Kindeswohlgefährdung das Jugendamt eingeschaltet werden.
Niedersachsen hat als bisher einziges Bundesland eine unabhängige Anlaufstelle für Opfer und Fragen sexuellen Missbrauchs und Diskriminierung in Schulen und Tageseinrichtungen für Kinder. Sie berät seit 2012 sowohl betroffene Kinder, Jugendliche und Eltern als auch pädagogische Fachkräfte. Mit 145 Hinweisen auf mögliche sexuelle Übergriffe war die Zahl 2017 so hoch wie noch nie. Nicht zuletzt besteht die Hoffnung, durch Prävention und Enttabuisierung Mädchen und Jungen besser vor schulischem Misserfolg zu schützen – wer Gewalt erduldet und sich alleingelassen fühlt, scheitert besonders häufig in der Schule.

Horst Roselieb, bis vor kurzem Leiter der Anlaufstelle, weiß, dass ins Vertrauen gezogene Lehrer leicht in eine schwierige Lage geraten können. „Ein junger Lehrer hat sich bei uns anonym gemeldet und über einen älteren Kollegen berichtet, der von einer Schülerin des sexuellen Missbrauchs bezichtigt wurde. Es hat ein halbes Jahr gedauert, bis der Lehrer bereit war, Namen zu nennen. Gegen den beschuldigten Lehrer wurde ein Disziplinarverfahren eingeleitet“, sagt Roselieb und fügt hinzu: „Das Kollegium ist bis heute gespalten – diejenigen, die den Fall öffentlich machten, gelten bei vielen als Nestbeschmutzer, die einem angesehenen und engagierten Pädagogen schaden wollen.“

Dorina Kolbe hat in den 70er und 80er Jahren selber sexuelle Gewalt im engsten sozialen Umfeld erfahren und ist heute Mitglied im Betroffenenrat, ein Fachgremium beim unabhängigen Bundesbeauftragten. „Damals war es nicht selten, dass Lehrer Schüler schlugen. Man kann sich aber jemandem nur in einer angst- und gewaltfreien Atmosphäre anvertrauen. Als ich 13 war, versuchte ich mehrmals, mich einer Sportlehrerin zu offenbaren, doch sie konnte meine Signale nicht erkennen, denn sexueller Missbrauch war damals kein Thema“, sagt Kolbe und ergänzt: „Es hat sich an den Schulen viel verbessert, ein verbindliches Schutzkonzept an jeder Schule wäre ein weiterer positiver Schritt. Wichtig wäre zudem ein Schulfach Medienkompetenz, um das Thema digitale Gewalt aufzugreifen und Schülern zu zeigen, was passieren kann, wenn sie z.B. Nacktaufnahmen von sich verschicken.“

Autor: Joachim Göres

Kompakt
Mit der Umsetzung eines Schutzkonzeptes sollen Schulen künftig besser mit Fällen sexuellen Missbrauchs umgehen. Dazu gehören u.a. die Erarbeitung eines Verhaltenskodexes, die Festlegung eines Interventionsplanes und die Einrichtung einer Beschwerdestelle. Entscheidend sei eine angst- und gewaltfreie Atmosphäre, in der Schülern signalisiert werde, dass man ihnen zuhöre und sie ernst nehme. Näheres unter: www.kein-raum-fuer-missbrauch.de, www.hilfeportal-missbrauch.de, www.beauftragter-missbrauch.de und www.schule-gegen-sexuelle-gewalt.de.