Klett-Themendienst Nr. 85 (12/2018)

Viele Lehrkräfte fühlen sich durch chronisch kranke Kinder in der Schule überfordert. Ein Modellversuch mit Schulkrankenschwestern in Brandenburg und Hessen stößt auf positive Resonanz.

Jedes dritte Schulkind gilt als allergiekrank. 15 bis 20 Prozent aller Schulkinder haben Asthma, ebenso verbreitet ist Neurodermitis. Viel seltener sind Fälle, in denen Kindern mit einem angeborenem Herzfehler zur Welt kommen oder unter Diabetes leiden – dafür sind sie häufig auf Hilfe außerhalb des Elternhauses angewiesen. „14 Prozent der Mädchen und Jungen haben einen Bedarf an medizinischer Unterstützung in der Schule“, sagt die Kinderärztin Bettina Langenbruch vom Gesundheitsamt des Landkreises Hildesheim.

„Die Kinder sind immer länger in der Schule, deswegen wird bei chronisch kranken Kindern die Versorgung in der Schule immer wichtiger. Gleichzeitig wächst die Unsicherheit bei Lehrkräften, in Notsituationen etwas falsch zu machen“, sagt die Kinderkrankenschwester Kirsten Henning. Sie arbeitet als pädagogische Mitarbeiterin in einer Grundschule in Hannover und wird dort fast täglich als medizinische Fachkraft zu Rate gezogen. Wenn ein Junge nicht merkt, dass er unterzuckert ist und sich immer weniger auf den Unterricht konzentrieren kann. Wenn ein Mädchen sich ohne Ende kratzt und der Lehrer genervt „Hör auf!“ ruft. „Bei Neurodermitis ist zum Hautschutz eine Salbe wichtig. Doch viele Schüler haben nichts dabei, auch Asthma-Kinder vergessen oft ihr Spray“, sagt Henning. Dann bleibe nur die Möglichkeit, die Eltern oder einen Krankenwagen anzurufen.

Wichtig sei bei chronisch kranken Kindern, dass Eltern alle medizinisch relevanten Informationen wie zum Beispiel Arztbriefe an die Schule weitergeben. Doch häufig würden nicht mal Fragebögen der Schulen zu gesundheitlichen Problemen ausreichend ausgefüllt – teils aus Verständnisproblemen, teils aus fehlender Einsicht in die Notwendigkeit. Lehrkräfte müssen alle drei Jahre ihren Erste-Hilfe-Kurs auffrischen. „Dort spielen chronische Krankheiten keine große Rolle. Ich biete spezielle Lehrerfortbildungen an, aber die kommen meist wegen fehlendem Interesse nicht zustande“, sagt Henning. Bei Allergikern sei für lebensbedrohliche Situationen ein individueller Notfallplan eines Arztes für den Lehrer nötig, aus dem die genaue Dosierung der Medikamente hervorgeht. Für Asthma-Schüler müsse klar sein, dass bei Pollenflug in Klassen mit betroffenen Schülern die Fenster nicht geöffnet werden und Schüler in den Pausen im Gebäude bleiben können.

Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung weist in der Elternbroschüre „Chronische Erkrankungen im Kindesalter“  darauf hin, dass Schulmitarbeiter weder Medikamente verabreichen noch Spritzen setzen dürfen – es sei denn, es besteht darüber eine Abmachung mit den Eltern. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe von Menschen mit Behinderung, chronischer Erkrankung und ihren Angehörigen (www.bag-selbsthilfe.de) hat das Heft „Chronische Erkrankungen und Behinderungen im Schulalltag“ herausgegeben, in dem 58 chronische Erkrankungen und Behinderungen detailliert beschrieben werden und Lehrkräfte Hinweise für den Umgang damit bekommen – darunter auch viele nicht so bekannte Erkrankungen wie die Endometriose oder das Klinefelter-Syndrom.
Im Gegensatz zu Deutschland ist in vielen europäischen Ländern die medizinische Versorgung in der Schule durch eine feste Fachkraft selbstverständlich. In Brandenburg ist gerade ein 18-monatiger Modellversuch mit zehn Schulgesundheitsfachkräften an 20 Schulen zu Ende gegangen. In dieser Zeit versorgten die examinierten Gesundheits-, Kinder- und Krankenpflegekräfte rund 6500 Schüler medizinisch, vor allem wegen gesundheitlicher Beschwerden, nach Unfällen und nach Raufereien. Die Unterstützung von Kindern mit chronischen Erkrankungen oder die Hilfe für Kinder nach einer längeren Krankheit gehörte ebenso zu den Aufgaben wie die Beteiligung an Projekten für eine gesunde Ernährung und Aufklärung über Krankheiten.

Die erste Bilanz sieht so aus: Behinderte und chronisch kranke Kinder fühlten sich viel seltener durch ihre Mitschüler gehänselt, doppelt so viele Schüler konnten trotz plötzlicher Erkrankung in der Schule bleiben, rund drei Viertel der Eltern und Lehrer empfanden eine Schulkrankenschwester als Entlastung. Brandenburg will das Modell verlängern, das bislang vom Land (800 000 Euro) und von der AOK Nordost (400 000 Euro) finanziert wurde. Geplant ist, zehn neue Schulkrankenschwestern einzustellen, damit sich eine Fachkraft nur noch um eine Schule kümmern muss. Dabei soll stärker als bisher auf Kinder geachtet werden, die als schwierig gelten – nach Schätzungen haben knapp fünf Prozent ADHS (Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung).  Auch in Hessen, wo sich zehn Schulen in Frankfurt und Offenbach an dem Modellprojekt beteiligten, wurde eine Verlängerung bis Ende kommenden Jahres beschlossen. Dann soll auch untersucht werden, ob sich die gesundheitliche Betreuung positiv auf den Lernerfolg auswirkt.

Die Lüneburger Psychologen Peter Paulus und Thomas Petzel haben den Modellversuch wissenschaftlich begleitet und betonen das große Potenzial von Schulkrankenschwestern  – sie könnten Kinder mit Sorgen und Nöten erreichen, die häufig von Erwachsenen und Gleichaltrigen nicht ernst genommen würden. Allerdings gebe es derzeit zu wenig Bezug zur pädagogischen Arbeit der Schule. Empfohlen wird in einem Abschlussbericht u.a. die Einrichtung eines mindestens 15 Quadratmeter großen Krankenzimmers mit Waschbecken, Fenster und einer Toilette in der Nähe

Autor: Joachim Göres

Kompakt
Gerade jüngere Schüler mit chronischen Krankheiten sind in der Schule auf Unterstützung angewiesen. Nicht selten werden aber Lehrkräfte von den Eltern nicht ausreichend über gesundheitliche Probleme ihrer Kinder informiert. Ein Modellversuch in Brandenburg und Hessen, wo an 30 Schulen Schulkrankenschwestern eingesetzt wurden, führte zu einer deutlichen Entlastung von Eltern und Pädagogen und weniger Ausgrenzung von behinderten und chronisch kranken Schülern.