Britta Seepe-Smit steckt in einem Dilemma. Lange Zeit ließ die Grundschullehrerin und Fachleiterin für Deutsch am Zentrum für schulpraktische Lehrerausbildung der Bezirksregierung Münster ihre Schülerinnen und Schüler „Lesen durch Schreiben“ lernen. Auch ihr Sohn Leonard wurde so unterrichtet. Im Zentrum des Lernens stand eine Anlauttabelle, vor allem aber die Überzeugung, die Kinder sollten möglichst viele Texte selbst produzieren, ohne dabei auf die Rechtschreibung zu achten, und so schließlich auch das Lesen mitlernen. Jeder möglichst in seinem Tempo, falsch geschriebene Wörter werden anfangs noch geduldet. Die Schreibmotivation soll schließlich nicht sinken.
Abb.1 Die Mischung der Methoden: Anlaute hören, erkennen und schreiben. Erste Schreibübungen nach der Anlauttabelle in Klasse 1 auf der Basis von Rechtschreibstrategien [aus: Zebra 978-3-12-270912-9]
Doch schon bald musste Britta Seepe-Smit erkennen, der Weg war für ihren Filius der Falsche. „Leonard wollte nicht im eigenen Tempo lernen. Er hätte einen strukturierteren Unterricht benötigt. Den ermöglicht die Fibel“, sagt die Mutter. Der so genannte „Systematische Fibelansatz“ führt schrittweise einzelne Laute und Buchstaben und Buchstabenverbindungen ein. Dabei werden gesprochene Wörter unter Anleitung möglichst exakt in Einzellaute zerlegt (analytisches Verfahren) und diese Laute danach im gelenkten Leseprozess zu einem Wort verschliffen (Syntheseverfahren). Die Kinder erlernen die Schriftsprache in einem fest vorgegebenen, strukturierten Ablauf vom Einfachen zum Komplexen. Korrekturen durch die Lehrkraft sind selbstverständlich. Fibeln werden schwerpunktmäßig in Bayern und in den östlichen Bundesländern eingesetzt, Länder, in denen Vergleichstests zur Rechtschreibung tendenziell besser abschneiden.
Die Wahrheit liegt in der Mitte
Tatsächlich also ein Plädoyer für die Fibel? Britta Seepe-Smit verneint. „Die Wahrheit liegt wie so oft in der Mitte.“ Will heißen: Manche Kinder lernen leichter und besser mit der Anlauttabelle, indem sie Texte produzieren und dabei „nach Gehör schreiben“, andere mit der Fibel. Und die meisten durch eine Mischung der unterschiedlichen Methoden. Denn längst liegen den Fibeln zumeist auch Anlauttabellen bei und umgekehrt vermitteln Lehrwerkskonzepte auf der Basis der Anlauttabelle von Anfang an auch Rechtschreibstrategien. „Schreiben nach Gehör ist übrigens nicht so verwerflich, wie es in der Öffentlichkeit oftmals dargestellt wird", so Michael Schlienz, Leiter des Klett Grundschulverlags. „In der sogenannten alphabetischen Phase schreiben alle Kinder nach Gehör. Wichtig ist nur, den Übergang hin zum rechtschriftlich, richtigen Schreiben früh zu schaffen und zu gestalten.“
Abb. 2 Lernen nach der klassischen Fibel-Methode mit Anlauttabelle als Unterstützung [aus: Bücherwurm 978-3-12-310701-6]
Barbara Bößmann kann die aufgeregte Debatte, die auch nach Bekanntwerden der Bonner Studie entbrannte, nicht nachvollziehen. Durchaus mit einer Portion Galgenhumor beobachtet die Leiterin der Bonner Elsa-Brändström-Grundschule ebenso wie eine bayerische Kollegin, die nicht genannt werden möchte, die reflexartigen Reaktionen von Schulministerinnen und -ministern, wenn Bildungsstudien und Vergleichsarbeiten Schülerinnen und Schülern Defizite bei der Rechtschreibung attestieren. „Ist gerade Methode X populär und die Kinder schneiden beim Test schlecht ab, rufen alle nach Methode Y. Und umgekehrt“, sagt die Pädagogin aus dem Süden Deutschlands.
Der Problematik, dass auch ihre Studie zu derartigen Reaktionen führen könnte, sind sich die Urheber an der Universität Bonn bewusst. Prof. Dr. Una Röhr-Sendlmeier von der Abteilung Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie hat sie gemeinsam mit Doktorand Tobias Kuhl durchgeführt und jüngst präsentiert. Ihr klares Ziel lautete, einen wissenschaftlichen Beitrag zur Diskussion zu leisten und diese zu versachlichen. Darum ist der Professorin der Hinweis besonders wichtig, dass die Studie völlig ohne Drittmittel und ohne die Verflechtung mit irgendwelchen Interessengruppen durchgeführt und ausgewertet wurde.
Individuelle Lösungen
Barbara Bößmann sucht mit ihrem Kollegium stets die individuelle Lösung, basierend auf der Überzeugung, dass die Fibel und die dort benutzten Wörter ihre „Klientel“ überfordert. Bei der hohen Anzahl Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund und einer Vielzahl von Muttersprachen in ihren Klassen verständlich. „Wir haben Kinder, die können schon alle Buchstaben. Ihnen müssen wir mehr Futter, sprich Wörter und Bilder an die Hand geben. Andere tun sich schon im Umgang mit der Anlauttabelle schwer“, berichtet sie. Die Ursache dafür liegt zumeist in der Muttersprache. Sowohl die türkische als auch die arabische Sprache beinhalten mehr Laute als die deutsche. Eine besondere Herausforderung für die Kinder, die feinen Unterschiede herauszufinden.
Bößmann ist von einem fest überzeugt: „Viele unserer Kinder schreiben früh und ungehemmt. Und anfangs auch falsch. Doch spätestens, wenn wir den Kindern erklären, dass man bei den meisten Wörtern, bei denen man am Ende ein –a hört, ein –er schreibt, z.B. bei Fenster, Roller, sollten sie danach diese Regel auch befolgen. Natürlich führen wir diesen Sachverhalt nicht ein, ohne die Kinder auch auf die wenigen Ausnahmewörter aufmerksam zu machen, wie Oma, Mama, Lama.
Abb. 3 Einer der häufigsten Fehlerschwerpunkte in der Grundschule bildet die Groß- und Kleinschreibung, die gezielt ab Klasse 2 geübt wird - Basis hierfür bilden die Rechtschreibstrategien [Niko 2 Sprachbuch 978-3-12-310551-7]
Dass es den Kindern schwerfalle, die falsche Schreibweise aus dem Gedächtnis zu streichen, glaubt sie nicht: „So schnell bleibt das Falsche nicht haften.“ Verfechter der Rechtschreibung von Anfang an sehen dies genau umgekehrt, wobei hier auch umgekehrt gilt: Oft bleibt die richtige Schreibung bei Kindern genauso wenig gleich haften, also es kann auch bei Wörtern, die schon mehrmals richtig geschrieben wurden, wieder zu Fehlern kommen.
Auch eine Frage der Ausbildung
Der These, dass der Königsweg offensichtlich in einem bewussten Mix der Methoden liegt, kann sich auch Britta Seepe-Smit anschließen. „Eine sichere Herangehensweise ist meines Erachtens, die Fibel als strukturierte Grundlage zu nehmen und trotzdem lautgetreue Schreibübungen parallel anzubieten“, betont sie. Sie hat ein Übel an anderer Stelle ausgemacht: die Lehreraus- und -fortbildung. Als Beispiel führt sie Nordrhein-Westfalen an. Dort können Lehramtsanwärter wählen, ob sie in Deutsch oder Mathematik fachdidaktisch auf den Schulalltag vorbereitet werden. Die Folge: „Wer nur in einem Fach didaktisch ausgebildet wird, kennt die Stärken und Schwächen der unterschiedlichen Methoden im anderen Fach nicht.“ Folglich übernehmen Lehramtsanwärter, was an der Schule Tradition hat. Die Vertreter der einzelnen Lernmethoden sind sich sicher: Alle Methoden funktionieren und führen zu zufriedenstellenden Ergebnissen, wenn die Lehrkräfte sie nur wirklich durchdrungen haben und entsprechend vermitteln können. Also doch eine Frage der Ausbildung?
„Stimmt irgendwie schon“, bestätigt Sonderpädagogin Verena Salem. Auf die Vermittlung des Schreibenlernens sei sie theoretisch während der Ausbildung vorbereitet worden, praktisch aber nicht. „Das erlernt man erst in der Praxis“, sagt sie. Und diese lehrte sie: „Wir dürfen nicht alle Kinder über einen Kamm scheren.“ Ein Satz, der die Arbeit der Lehrkräfte nicht leichter macht, da die Lehrkräfte für die verschiedenen Kinder ein unterschiedliches Repertoire an Methoden benötigen. Ein Satz aber auch, der zeigt, dass es immer Kinder geben wird, die auf dem einen oder anderen Weg zum Erfolg kommen, ob mit „Schreiben nach Gehör“ oder einem analytisch-synthetischem Buchstabenerwerb in einer Fibel.
Autoren: Inge Michels/Stefan Lüke