Walzer, Samba, Foxtrott – vom CD-Player werden nach und nach verschiedene Melodien eingespielt. In der Mitte des Raums sitzen Erwachsene im Kreis, mit Trommel, Triangel, Klanghölzern und weiteren Schlaginstrumenten in der Hand. Jeder soll seinen eigenen Rhythmus zur Musik vom Band finden, der Stuhlkreis wird so zu einem großen Begleitorchester. Auf Anweisung von Susette Preißler spielen mal alle zusammen, mal nur Dreiergruppen und die anderen hören zu, welche unterschiedlichen Ideen die Einzelnen so haben. Mit Instrumenten einen Rhythmus erfassen und dazu improvisieren – eine von vielen praktischen Aufgaben, die Preißler ihrer Gruppe stellt.
Ihre Gruppe: Das sind Lehrerinnen und ein paar Lehrer, die in Berliner Grundschulen Musik unterrichten, ohne dieses Fach studiert zu haben. Sie nehmen an einer vom Deutschen Chorverband ausgearbeiteten Fortbildung namens Caruso teil. Dazu treffen sie sich während eines Schuljahrs fünfmal einen ganzen Tag, um sich theoretisch und praktisch mit Themen wie Gesangstechnik, Dirigiertechnik sowie Tanz und Bewegung auseinanderzusetzen. Dazu gehört, die eigene Sprech- und Singstimme zu erleben, die Liedbegleitung mit Bewegung, Bodypercussion und Instrumenten auszuprobieren, sich neues Liedrepertoire anzueignen und mehr über die Kinderstimme zu erfahren.
„Das ersetzt kein Musikstudium, ist aber förderlich für das Musizieren in der Klasse“, sagt Preißler, ausgebildete Grundschullehrerin und Diplom-Musikpädagogin, die an der Fachhochschule Potsdam das Fach Chorleitung im Studiengang Musikpädagogik unterrichtet. „Ich kann viel höher singen als ich dachte“, „Ich habe das erste Mal mit der Klasse richtig gesungen und es hat viel Spaß gemacht“, „Das Gefühl, dass ich in meinem Rahmen mit Kindern Musik machen kann, gibt mir mehr Selbstvertrauen“ – einige der Reaktionen, die Preißler von den rund 50 Teilnehmerinnen des ersten Durchgangs bekommen hat.
Heike Schmidt gehört zum aktuell laufenden zweiten Weiterbildungskurs, der wegen des großen Interesses schnell ausgebucht war. Sie unterrichtet neben ihrem Stammfach Ethik seit drei Jahren an einer Grundschule im Stadtteil Schöneberg in den ersten beiden Klassen auch Musik, zudem leitet sie den Schulchor. „Ich habe selber lange in einem Chor gesungen, außerdem mache ich gerne Musik und spiele E-Bass. An unserer Schule fällt viel Musik aus, deswegen bin ich gefragt worden, ob ich Musik unterrichten kann“, erzählt sie.
Doch das ist in der Praxis nicht immer einfach. Musik genießt in der Gesellschaft zwar eine hohe Wertschätzung, rezipiert wird sie von Grundschulkindern aber zumeist passiv in Form von Hörspielen, Internet oder Fernsehen. „In vielen Familien wird heute nicht mehr gesungen. Deswegen fehlt den meisten Kindern der Zugang zu ihrer Singstimme. Viele schreien mehr als das sie singen“, sagt Schmidt und fügt hinzu: „Alle Menschen können singen lernen, doch es erfordert Übung und es kostet einiges an Einsatz, damit sie ihre Singstimme finden. Durch die theoretische Weiterbildung fühle ich mich schon nach kurzer Zeit viel sicherer und traue mir mehr zu, den Kindern dabei zu helfen.“ Hilfreich sei, dass in der Fortbildung Theorie mit Praxis verknüpft werde. So würden den Kurseilnehmern Musikapps vorgestellt, mit deren Hilfe zum Beispiel Lieder leichter in anderen Tonarten oder langsamer gesungen werden können.
Bärenstimme, Kuschelstimme, Jubelstimme
Ziel des Musikunterrichts in der Grundschule ist es, Kinder schrittweise zu einem aktiven musikalischen Tun und einer reflektierten Rezeption von Musik zu führen. Schmidt beginnt deshalb mit den Mädchen und Jungen in ihren Musikstunden mit rhythmischen Übungen, dann wird gesprochen, danach startet das körperliche Warmmachen, schließlich folgt das Einsingen. „Wir haben an unserer Schule viele Kinder mit Migrationshintergrund, die mit der deutschen Sprache Probleme haben. Durch das Singen machen sie schneller sprachliche Fortschritte“, beobachtet Schmidt. Sie spricht von einer dankbaren Aufgabe: „Grundsätzlich ist es leicht, Kinder zum Singen und rhythmischen Klatschen zu motivieren, nur wenige sperren sich. Das Gruppenerlebnis spielt eine große Rolle, die Freude ist entscheidend.“
Das erlebt Schmidt auch im Caruso-Chor, der sich einmal wöchentlich unter der Leitung von Preißler trifft und der für alle Lehrerinnen und Lehrer verpflichtender Teil der Fortbildung ist. „Alle freuen sich auf das gemeinsame Singen. Viele merken, dass ihre Stimme sicherer wird, inzwischen singen wir vierstimmig. Man kann Sachen für den Unterricht ausprobieren und sich in den Pausen über die Erfahrungen in den Musikstunden austauschen“, berichtet Schmidt.
80 Prozent des Musikunterrichts an Berliner Grundschulen wird von fachfremden Lehrerinnen und Lehrern unterrichtet – ein Grund, warum das Land Berlin die Caruso-Fortbildung unterstützt. „Dieses Programm wäre überall in Deutschland sinnvoll“, sagt Veronika Petzold, Geschäftsführerin des Deutschen Chorverbandes und verweist auf Schätzungen, wonach auch in den anderen Bundesländern nur 20 bis 30 Prozent des Musikunterrichts an Grundschulen von Fachkräften erteilt wird.
Petzold kritisiert die universitäre Ausbildung im Fach Musikpädagogik: „Jeder müsste Chorleitung studieren, das ist leider nicht der Fall. Es hängt von einem guten Chorleiter ab, ob an einer Schule mehr oder weniger gesungen wird. Zudem müssten mehr pädagogische Kenntnisse im Studium vermittelt werden, die Schulpraxis spielt eine zu geringe Rolle.“ Der Zugang zum Studium müsse einfacher werden, der hohe künstlerische Anspruch an künftige Grundschulpädagogen sei fragwürdig.
Unterschiede gibt es zwischen den Bundesländern bei der Zahl der angestrebten Musikstunden in der Grundschule. In den ersten beiden Klassen soll in Niedersachsen und Sachsen jeweils eine Stunde pro Woche unterrichtet werden. Thüringen fordert mindestens eine Stunde, Sachsen-Anhalt ein bis zwei Stunden, Berlin zwei Stunden. In Hamburg und Baden-Württemberg sollen bis zur 4. Klasse Musik insgesamt jeweils sechs Wochenstunden unterrichtet werden, über die Verteilung über die Schuljahre entscheiden die Schulen. In allen anderen Bundesländern gibt es eine Richtzahl, die Kunst (und manchmal noch andere Fächer) miteinschließt - wiederum sind es meist die Schulen, die festlegen, welches Fach mit wieviel Stunden unterrichtet werden soll. „Über die Kongruenz zwischen den länderspezifischen Stundentafeln für den Musikunterricht bzw. den Kontingentstundentafeln und dem tatsächlich erteilten Unterricht in Musik gibt es bislang keine empirisch abgesicherten Daten“, schreibt Ortwin Nimczik, Ehrenpräsident des Bundesverbandes Musikunterricht, in dem vom Deutschen Musikrat herausgegebenen Band „Musikleben in Deutschland“.
„Es muss nicht jedes Kind ein Instrument lernen, aber Singklassen gehören in den normalen Stundenplan rein“, fordert Gunter Kreutz, Musikwissenschaftler an der Universität Oldenburg und fügt hinzu: „Wir brauchen eine Strukturreform bei der Ausbildung von Erzieherinnen und Pädagogen. 150 Stunden für grundlegende Kenntnisse über das Singen, Bewegen und Musizieren müssen für alle verpflichtend werden.“ Er zitiert mehrere Studien, wonach schon 20 Minuten gemeinsames Singen pro Woche in der Schule den Stimmumfang erhöht und zu besserem Sozialverhalten führt. Zudem wirke sich Singen positiv auf die Sprachentwicklung und das Allgemeinbefinden aus. Kreutz: „Die Kita und die Grundschule sind die wichtigsten Institutionen für das Singen. Derzeit versagen sie weitgehend.“
Autor: Joachim Göres