Was motiviert Schulabgänger dazu, umsonst zu wohnen und dafür Bildung unter benachteiligte Kinder und Jugendliche zu bringen?
Die meisten kommen nach dem Abitur als Bundesfreiwillige (BFD) zu uns. Sie bekommen zum ersten Mal in ihrem Leben eine eigene Wohnung und zum ersten Mal einen Job. Doch es geht ihnen nicht nur um ein Dach über dem Kopf. Sie wollen das Leben aus einer anderen Perspektive kennenlernen ̶ und Verantwortung für mehr Bildungsgerechtigkeit übernehmen.
Laut der aktuellen PISA-Studie gelingt es den Schulen in Deutschland auch nach 20 Jahren nicht, Kinder mit Migrationshintergrund so zu fördern, dass sie die gleichen Chancen auf Bildungserfolg haben. Der Bildungserfolg hängt weiter eng mit der sozialen Herkunft und mit dem Migrationshintergrund zusammen. Wie sehen Sie vor diesem Hintergrund Ihr Engagement?
Die meisten Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund haben es sehr schwer in Duisburg-Marxloh. Wir arbeiten in unserem Verein „Tausche Wohnen für Bildung“ ausschließlich mit solchen bildungsbenachteiligten Kindern und Jugendlichen im Alter von sechs bis 14 Jahren. Darunter sind auch sehr viele Kinder mit Fluchterfahrung, die oft schwer traumatisiert sind. Um diese Kinder gezielt zu fördern, kooperieren wir mit mehreren Schulen in der Nachbarschaft.
Wir schicken unsere Bildungspaten morgens in den Unterricht der fünften Klassen. Dort sitzen teilweise nur zwei Schüler, die muttersprachlich Deutsch sprechen. Die meisten sprechen kaum Deutsch und können selbst in der fünften Klasse noch nicht richtig lesen und schreiben. Es kommt oft vor, dass Schüler die Schuhe nicht schnüren und die Schultasche nicht selbst packen können. Die Lehrkräfte in Duisburg-Marxloh stehen vor riesigen Herausforderungen. Daher fordern wir: In Quartieren wie Marxloh sollten die besten und motiviertesten Lehrer eingesetzt werden.
Was machen die Bildungspaten in den Schulen?
Die Lehrkräfte teilen den Bildungspaten einzelne Schüler mit Lernschwierigkeiten zu. Die werden dann entweder im Unterricht gezielt unterstützt oder auch aus dem Unterricht herausgenommen. Der größte Part der Bildungspaten besteht aus der Förderung in der deutschen Sprache, weil alle Kinder, die zu uns kommen, Schwierigkeiten mit Deutsch haben.
Nachmittags betreuen Bildungspaten eigene Gruppen von höchstens fünf Kindern in der Tauschbar, der Wirkungsstätte des Vereins. Zwischen 14 und 18 Uhr geben sie Kindern einen sicheren und angstfreien Raum zum Lernen von Deutsch, Mathematik und anderen Fächern. Im Zuge der „Buddy-Time“ schaffen sie darüber hinaus Raum zum Basteln und Spielen. Es ist uns wichtig, dass die Kinder neben der schulischen Förderung auch soziale Kompetenzen und Selbstkompetenzen erwerben.
Da alle Kinder bei uns irgendwelche Päckchen mit sich herumtragen und in der Schule oft schlechte Lernerfahrungen gesammelt haben, brauchen sie sehr viel Aufmerksamkeit. Viele sind in einem Alter, in dem sie das Lesen, Schreiben und Rechnen schon beherrschen sollten. Aber sie hinken den anderen Kindern schulisch hinterher, weil sie zu Hause nicht unterstützt werden können. In unseren Gruppen müssen erst einmal Lernblockaden abgebaut werden. Es geht in dieser Zeit also auch um Beziehungsarbeit, denn erst gute Beziehungen machen die Kinder aufnahmebereit.
Wie werden Lernblockaden abgebaut?
Zuerst wird eine Vertrauensbasis durch Spiele aufgebaut. Wir wecken Vertrauen auch durch eine gelassenere Einstellung zum Lernen: Es ist okay, dass du den schulischen Stoff noch nicht beherrschst, wir nehmen uns Zeit und arbeiten dran. Das wirkt oft Wunder. Denn im Klassenverband werden Kinder aus benachteiligten Familien mit Migrationshintergrund oft ausgelacht, wenn sich herausstellt, dass sie noch nicht richtig lesen, schreiben und rechnen können.
Woher wissen Sie, dass die Lernförderung durch Bildungspaten tatsächlich etwas bringt?
Durch positive Rückmeldungen von Lehrerinnen und Lehrern. Die Bildungspaten erzählen uns aber auch oft, dass die Kinder sagen: „Mit dir kann ich viel besser lernen als in der Schule.“ Wir haben zum Beispiel einen syrischen Jungen mit Fluchthintergrund, der bislang sehr schlecht in Mathematik war. Kurz nach der intensiven Betreuung durch eine Bildungspatin berichtete er, dass er in Mathematik eine Zwei geschrieben habe.
Wirkungen können wir auch bei den Selbstkompetenzen beobachten. Kinder und Jugendliche, die von Bildungspaten gefördert werden, sind selbstbewusster, pünktlicher und zuverlässiger. Die geförderten Kinder sagen selbst, dass sie noch länger in der Tauschbar bleiben möchten, weil sie zu Hause nur Fernsehen, oder Zeit mit dem Tablet oder dem Handy verschwenden würden. Sie schätzen, dass sie bei uns Aufmerksamkeit bekommen und mit anderen Kindern spielen können. Das ist traurig zu sehen, aber daran merken wir auch, wie wichtig unsere Arbeit ist.
Welche Qualifikation brauchen die Bildungspaten?
Man muss nicht vorher Nachhilfe gegeben haben. Uns ist wichtig, dass Bewerber offen sind, Freude am Umgang mit Kindern haben, bereit sind zu lernen und sich selbst zu reflektieren. Wir können bei der Rekrutierung gar nicht wählerisch sein, weil sich viele junge Menschen nicht trauen, hier in Marxloh zu leben.
Daher haben wir den Anspruch, dass wir den jungen Erwachsenen, die zu uns kommen, die erforderlichen Qualifikationen beibringen. In der von unserem Verein entwickelten Qualifizierung lernen die Bildungspaten zum Beispiel den Unterschied zwischen persönlichen, sozialen und fachlichen Kompetenzen kennen. Wir legen gemeinsam mit den Bildungspaten Ziele fest, wo es mit den Kindern hingehen soll. Darüber hinaus läuft vieles auch über Learning by Doing. Wir sind dabei, unser pädagogisches Konzept weiter zu professionalisieren.
Warum lohnt es sich für Sie, für die Bildung von Kindern aus sozialen Brennpunkten morgens früh aufzustehen?
Es lohnt sich für mich, weil ich jeden Tag erfahre, dass die Energie, die ich hier reinstecke, etwas bewirkt. Die Kinder sind glücklich und bekommen eine Chance. Mit meinem Engagement kann ich einen kleinen Tropfen auf den heißen Stein fallen lassen ̶ und mir am Abend sagen, ich habe etwas geleistet. Das ist ganz anders als in meinen vorherigen Jobs.
Das Gespräch für den Klett-Themendienst führte: Arnd Zickgraf
Zur Person: Anna-Sophie Hippke, 30 Jahre, leitet seit September 2018 den Standort Duisburg-Marxloh für den Verein „Tausche Bildung für Wohnen“. Vorher war sie beim Internationalen Paralympischen Komitee beschäftigt und hat Sportmanagement studiert.