Klett-Themendienst Nr. 93 (06/2020)

Wie kann Religionsunterricht in religiös heterogenen Lerngruppen gelingen? Dr. Bärbel Husmann, Religionslehrerin und Herausgeberin des Lehrwerks „Moment mal!“ für den Evangelischen Religionsunterricht wirft einen Blick in die Bundesländer und deutsche Klassenzimmer.

In Hamburg unterrichten muslimische, jüdische und evangelische Lehrkräfte Religion. Sinnvoll?

Der Hamburger Weg ist eben kein Hamburger Modell gewesen. Ob der Unterricht dem Grundgesetz entspricht, war immer umstritten. Selbst Christoph Link, der 2001 dazu ein wohlwollendes Gutachten geschrieben hat, stützt sich nur auf den einen Punkt, dass der Unterricht in der Verantwortung einer einzigen Religionsgemeinschaft lag, nämlich der Evangelischen Kirche. Das sei „noch“ mit dem Grundgesetz in Einklang zu bringen. Dort steht aber in Art. 7 Abs. 3, der Religionsunterricht müsse „in Übereinstimmung mit den jeweiligen Grundsätzen der Religionsgemeinschaften“ erteilt werden. Reichen da die evangelischen Grundsätze? Die Katholische Kirche ist beispielsweise nicht beteiligt gewesen. Links Position ist deswegen keine Mehrheitsposition geworden (1). Im Moment arbeitet man in Hamburg ja an einer Revision, hier ist gerade sehr viel in Bewegung. Muslimische Lehrkräfte sind nur absolut marginal zum Einsatz gekommen. Und dass jüdische Lehrkräfte dort unterrichten, ist mir neu. Der Hamburger Ansatz widerspricht auch allem, was in der jüdischen Fachdidaktik diskutiert und präferiert wird. Der bisherige Hamburger Religionsunterricht hat eigenen Untersuchungen und Analysen zufolge das Ziel der Einübung in aktive, gelebte Toleranz gerade nicht erreicht. Über dieses Defizit wird leider nie publizistisch berichtet.

Aber darüber, dass Hessen den bekenntnisorientierten Islamunterricht jüngst gestoppt hat…

Eine richtige Entscheidung. Einer der Vertragspartner für die inhaltliche Ausgestaltung des Islamischen Religionsunterrichts ist die DiTiB (Türkisch-Islamische Union der Anstalt für Religion e. V.). Sie ist zwar nach deutschem Vereinsrecht konstituiert, per Satzung aber sehr eng mit dem staatlichen „Präsidium für religiöse Angelegenheiten der Türkei“ verquickt. Dieses ist wiederum direkt dem Präsidenten unterstellt, der demgemäß auch Einfluss nehmen kann. Aus meiner Sicht und trotz guter Zusammenarbeit in den Jahren vor Erdogans Präsidentschaft ist es ein Ding der Unmöglichkeit, dass ein anderer Staat (nicht: eine andere Religion!) auf die Inhalte von Religionsunterricht in Deutschland Einfluss nehmen kann.
 
Wie sieht Ihr Traumkonzept des Religionsunterrichts aus?

Ich bin keine Juristin. Aber mein Traum wäre ein bekenntnisgebundener Religionsunterricht, der die Bekenntnisgebundenheit nur an das Bekenntnis der unterrichtenden Lehrkraft knüpft. Er hätte also eine transparente Perspektivität. Und es wäre islamischer oder christlicher oder jüdischer Religionsunterricht; die Schülerinnen und Schüler – egal, ob religiös oder nicht – hätten die freie Wahl, woran sie teilnehmen wollen. Es ist wie mit Musik als Schulfach: Auch die Unmusikalischen werden bei uns musikalisch gebildet. Diese Lehrkraft müsste eine universitäre Ausbildung und ein Referendariat absolviert haben mit deutlich erhöhten religionskundlichen Anteilen gegenüber den derzeitigen Anforderungen. Und der Vertragspartner des Staates, der die Inhalte dieses Unterrichts mitverantwortet, darf nicht mit einem anderen Staatswesen verknüpft sein. Er muss eine nennenswerte Mehrheit der jeweiligen Glaubensrichtung und in Bezug auf andere Religionen einen (meinetwegen positionellen) Pluralismus vertreten, also von einer grundsätzlichen Gleichwertigkeit aller Religionen ausgehen.

Doch Ihr Traum ist bislang nicht in Erfüllung gegangen…

Leider. Er scheitert daran, dass zum Beispiel die muslimische Gemeinschaft in den verschiedenen Bundesländern – wenn man da überhaupt von Gemeinschaft reden kann – sich nicht auf ein Zweckbündnis, das als Gegenüber zum Staat fungieren kann, einigen kann. Dazu würde gehören, zum Beispiel die Gegensätze zwischen Sunniten und Schiiten nicht als Hindernis anzusehen und den türkischen Staat außen vor zu lassen. Aber auch die christlichen Kirchen haben ja erst seit den 1990er-Jahren ernst zu nehmende Ansätze für einen konfessionell-kooperativen Unterricht entwickelt. Und rechtlich scheint es schwierig zu sein, Religionsunterricht gemeinsam zu verantworten, wenn die „Grundsätze“ (Art. 7 GG) so verschieden sind.

Eine 16-jährige, katholische Schülerin fragte neulich bei einer Diskussion: Warum versucht unsere Lehrerin immer, uns zum Glauben an Gott zu überreden? Sollte Religionsunterricht nicht besser die Unterschiede und Historien der unterschiedlichen Glaubensrichtungen darstellen?

Das Ziel des evangelischen wie katholischen Religionsunterrichts ist ein Bildungsziel, nämlich ohne Ressentiments und mit viel Sachverstand sich zu religiösen (und eben nicht nur zu ethischen!) Fragen äußern und entsprechend argumentieren zu können. Falls diese Schülerin wirklich erlebt haben sollte, dass sie zum Glauben an Gott überredet werden sollte, dann sollte sie sich von diesem Unterricht abmelden. Dieses Recht hat sie nämlich. Und ein solcher Unterricht wäre kein rechtlich zulässiger Unterricht, der gemäß den Grundsätzen der christlichen Religionsgemeinschaften erteilt würde.

Wie unterscheiden sich die unterschiedlichen Glaubensrichtungen/Kirchen in ihrer Sicht auf Religionsunterricht?

Das ist ein weites Feld. Es gibt natürlich Unterschiede. Alle aber müssen sich an die in Deutschland gesetzlich vorgegebene res mixta halten, also Bildungsziele vertreten und nicht Missionsziele. Und es ist richtig, wenn der Staat, wie in Hessen, das auch durchsetzt.

Warum sehen so viele Menschen in heterogenen Klassen und damit auch heterogenen Glaubensrichtungen nicht eine Chance zur Verständigung und des friedlichen Miteinanders?

Ich glaube, dass viele Menschen diese Chancen sehen. Aber man kann halt nicht Schülerinnen und Schüler unter dem Deckmantel von Dialogorientierung zu Expertinnen und Experten erheben – wer von uns ist das schon? Die Heterogenität allein macht noch keinen guten Unterricht. Das sieht man ja auch bei der Inklusion.

Wie gelingt Lehrkräften ein (möglichst) alle Religionen wertschätzender Unterricht?

Um alle Religionen wertschätzend zu unterrichten, muss man seinen eigenen Standpunkt kennen (und die Schülerinnen und Schüler müssen ihn kennen!). Und man muss schlicht und ergreifend gut ausgebildet sein. Genauso wie man mit dem Studium der Chemie nicht gleichermaßen Chemie, Biologie und Physik unterrichten kann, kann man mit Islamwissenschaften nicht gleichermaßen ev. und kath. Christentum, Buddhismus und Islam unterrichten.

Wo sehen Sie bundesweit die gravierenden Unterschiede im Religionsunterricht zwischen konfessionellen und staatlichen Schulen?

Die konfessionellen Schulen sind in sehr vielen Fällen pädagogische Vorreiterinnen gewesen – wie viele freie Schulen. Es ist gut, dass es Alternativen zum staatlichen Schulsystem gibt. Wie sagt man so schön? Konkurrenz belebt das Geschäft.

Was schreiben Medien über Religionsunterricht im Jahre 2030?

Ich hoffe ganz dringend, dass sie überhaupt etwas dazu schreiben und wir bis dahin überhaupt noch von religiöser Bildung im schulischen Kontext sprechen können.

Bietet die aktuelle Unterrichtspraxis so wenig Grund zum Optimismus?

Die Praxis ist nicht das Problem. Auch die Didaktik ist es nicht. In den vergangenen Jahren wird daran intensiv gearbeitet – auch interkonfessionell und interreligiös. Ich weiß nur nicht, ob das Tempo, in dem die Kirchen und die muslimischen Gemeinschaften sich bewegen, ausreicht. 2060 wird einer Freiburger Studie zufolge nur noch eine Minderheit der Deutschen Mitglied einer Kirche sein. Und werden die politischen Mehrheiten dann religiöse Bildung noch für wichtig halten?

In manchen (Grund)Schulen beträgt der Anteil muslimischer Kinder 80 und mehr Prozent. Wie sollte hier der Religionsunterricht aussehen?

Die Situation ist ja höchst unterschiedlich – auch in 10 Jahren wird es in ländlichen Gebieten keine wesentliche Erhöhung des muslimischen Bevölkerungsanteils geben. Ich würde mir wünschen, diese Schülerinnen und Schüler könnten wählen zwischen Islamischem und Christlichem Religionsunterricht. Mir hat der Vater eines kleinen muslimischen Fünftklässlers, der von Ev. Religion zu Werte und Normen wechseln wollte, mal gesagt: „Alter Schwede! Mein Sohn wird in Deutschland sterben. Deswegen soll er auch was lernen von der Religion, an die hier die Leute glauben. Er bleibt im Religionsunterricht!“

Das Interview führte: Stephan Lüke

(1) Peter Unruh, Religionsverfassungsrecht, 2. Auflage 2012, S. 260, Nomos und Wilfried Härle: Es geht noch besser. Warum das Hamburger Modell des Religionsunterrichts weiterentwickelt werden muss. In: chrismon 3/2020, S. 34.

Zur Person
Dr. Bärbel Husmann, *1958, Gymnasiallehrerin für Chemie und Ev. Religion, 2001-2008 Dozentin am Religionspädagogischen Institut der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers, Lehraufträge an den Universitäten Göttingen und Lüneburg, Promotion 2007 mit einer Arbeit über die Religiosität Jugendlicher, 2008-2017 Stellv. Schulleiterin am Gymnasium Meckelfeld/Niedersachsen, seit 2017 freiberufliche Autorin. Herausgeberin des Lehrwerks „Moment mal!“ für den Ev. Religionsunterricht.

Buchtipp:
Das Lehrwerk „Moment Mal!“, Ausgabe 2020, steht für einen kompetenzorientierten und abwechslungsreichen evangelischen Religionsunterricht. Mit Aufgaben und Texten zum interreligiösen Lernen geht das Lehrwerk auch auf die Bedürfnisse konfessionell gemischter Lerngruppen ein.
Blättern im Buch: https://klettbib.livebook.de/978-3-12-007301-7/