Klett-Themendienst Nr. 97 (02/2021)

Nach skandinavischem Vorbild unterrichten einige deutsche Schulen regelmäßig und bei jedem Wetter unter freiem Himmel. Die Befürworter sprechen von Kindern, die sich mehr merken, besser aufeinander eingehen sowie motivierter und entspannter sind. Ein Streifzug.

Schnuppertag in der Draußenschule Ladenburg. Lehrerin Carolin Rückert zeigt Eltern und Kindern das Schulgebäude, führt sie durch das benachbarte große Blumenbeet, reicht den Kindern Samen der Ringelblume, erklärt, was es damit auf sich hat und beantwortet Fragen. Im September 2021 will der Verein Draußen lernen eine neue Grundschule mit einem besonderen Konzept öffnen: Täglich wird im Wechsel drinnen und draußen unterrichtet. Sie soll mit 25 Kindern aus der ersten und zweiten Klasse starten, die gemeinsam von zwei Lehrerinnen unterrichtet werden. Für die Schule in freier Trägerschaft muss Schulgeld gezahlt werden. Aline Kieser schreckt das nicht ab. „Für unsere Tochter ist das genau das Richtige. Sie war schon im Waldkindergarten und kennt die Natur“, sagt Kieser. „Wir haben bis jetzt schon fast dreimal so viele Anmeldungen wie Plätze“, freut sich Rückert, die derzeit noch an der Alfred-Delp-Schule in Mannheim unterrichtet.

Täglich wird im Wechsel drinnen und draußen unterrichtet

An dieser Grundschule läuft seit 2015 ein Modellversuch. Anfangs konnten dort einige Klassen alle 14 Tage einen Vormittag im Freien lernen, inzwischen gehen alle Klassen mit der ausgebildeten Waldpädagogin Rückert einmal im Monat in einen Wald in der Nähe, um sich unter freiem Himmel mit Themen aus dem Sach-, Mathe-, Deutsch- oder Kunstunterricht praktisch zu beschäftigen. Meistens geht es um ein Hauptthema wie zum Beispiel das Hebelgesetz aus dem Sachunterricht. Am Beispiel einer Wippe auf dem Waldspielplatz oder eines mitgebrachten Nussknackers können die Kinder die Wirkung eines Hebels ausprobieren. Der Wald kann aber auch für ein Schleichdiktat genutzt werden: Rückert hängt sechs Sätze an sechs verschiedene Bäume, dann suchen sich die Kinder einen dieser Bäume aus, lesen und merken sich den Satz, gehen an ihren Platz zurück und schreiben den Satz auf.

„Das Lernen draußen ist viel nachhaltiger, es bleibt bei den Kindern viel mehr hängen. Und sie sind motivierter und entspannter, was das Unterrichten einfacher macht“, sagt Rückert. Sie bereitet das Draußen-Programm vor und begleitet die Klassen – 23 bis 26 Schülerinnen und Schüler – zusammen mit der jeweiligen Klassenlehrerin in den Wald. „Es müssen immer zwei Erwachsene eine Gruppe betreuen, eine Lehrkraft reicht nicht aus. An unserer Schule stammen die Stunden für die zweite Lehrerin aus dem Stundenpool für die zusätzliche Förderung einzelner Kinder“, sagt Rückert, die sich von ihrer neuen Schule in Ladenburg bessere Bedingungen für den Draußenunterricht erhofft.

Naturtagebuch im Rucksack

In Lüneburg gibt es seit dem Jahr 2020 die erste Draußenschule in Niedersachsen, die nach einem anderen Modell funktioniert. Die Bildungsinitiative „Landschaftsabenteuer“ arbeitet mit der Grundschule Lüne zusammen, deren 3. Klassen wöchentlich zwei Stunden Sachunterricht im Wald haben, das ganze Schuljahr über, bei fast jedem Wetter. Die Umweltpädagogin Sandra Miehe begleitet die 3a zur Waldlichtung. 20 Kinder machen es sich auf Holzstämmen bequem. In der Mitte liegt ein Thermometer im Laub. Lennox liest die Temperatur ab: 15 Grad. Alle holen ihr Naturtagebuch aus ihrem Rucksack und notieren die Zahl, einige malen noch eine Sonne dazu, als Erinnerung an diesen schönen Vormittag im Spätherbst. Plötzlich fangen die Bäume laut an zu rascheln. Ein Windstoß lässt viele rot-braune Blätter auf die Erde rieseln. „Oh wie schön, guck mal!“, ruft Franka begeistert zu Philipp und zeigt in den Himmel. Beide strecken ihre Arme nach oben, um ein paar Blätter zu fangen.

Während Klassenlehrerin Birte Möller sich im Hintergrund hält, gibt Miehe Anweisungen, beantwortet Fragen, stellt Aufgaben. „Womit nehmen Bäume Wasser und Nährstoffe auf, über ihre Blätter, ihre Wurzeln oder ihre Zweige?“ – wer das Handzeichen für die zweite Antwort gibt, darf zu einem Baum seiner Wahl laufen, die anderen bleiben an ihrem Platz. „Welcher Farbstoff lässt Blätter grün aussehen, Cholesterin, Chloroform oder Chlorophyll?“, lautet die nächste Frage. „Chlorophyll, das habe ich hier im Wald gelernt“, nennt Mattes die richtige Antwort und darf wie fast alle Kinder zu einem neuen Baum rennen.

Anschaulicher als im Klassenraum

Während einer Pause stürmen Kinder zu einem Holzstapel, wo sie Äste hin- und herräumen oder Stöcker gegeneinanderschlagen. „Ich kann die Blätter der Bäume voneinander unterscheiden“, sagt Lia stolz und hebt ein Ahornblatt auf – jedes Kind durfte sich im Wald einen Patenbaum aussuchen und Lia hat sich für einen Ahornbaum entschieden. Wie Lia statten auch andere Kinder ihrem Patenbaum regelmäßig einen Besuch ab, an dem sie gelernt haben, wie man durch die Messung des Stammumfanges das Alter eines Baumes berechnen kann. Ist es hier nicht manchmal kalt und ungemütlich? „Nein, wir sind immer richtig angezogen. Man ist im Wald gut gelaunt“, findet Daria.

Miehe hat in der Pause im Wald Karten ausgelegt, auf denen verschiedene Baumarten mit bestimmten Charakteristika wie Blätter und Wuchsform abgebildet sind. In Gruppen suchen die Kinder immer für einen Baum die passenden Karten zusammen, wobei gelegentlich die Meinungen auseinander gehen, wie bei der Eiche die Rinde oder bei der Buche die Früchte aussehen. Danach stellen sie sich im Kreis um die Karten, die sie auf den Boden gelegt haben und besprechen das Ergebnis. Henry und Martha tauschen nach kurzer Diskussion zwei Karten aus, dann passt alles.
„Das war unsere erste Stunde nach den Ferien und zugleich der Abschluss unseres bisherigen Themas Bäume und Wald. Ich bin sehr zufrieden“, sagt Miehe. „Für die Kinder ist dieser Unterricht im Wald anschaulicher als im Klassenraum. Sie entdecken Wespen auf Blättern, einen lila Pilz oder unbekannte Insekten, über die wir dann weitere Informationen suchen können“, ergänzt Möller und fügt hinzu: „Durch solche Erlebnisse können sie sich besser erinnern. Außerdem wirkt sich das Ganze auch positiv auf das Miteinander aus.“

Finanziert wird die Arbeit der Umweltpädagogen, die auch mit mehreren Schulen in Schleswig-Holstein und Hamburg zusammenarbeiten, durch mehrere Stiftungen. Zudem übernehmen die jeweiligen Schulvereine einen geringen Eigenanteil, die Schüler zahlen nichts. Manche Schulen setzen inzwischen das Draußenschulen-Konzept in Eigenregie um. „Landschaftsabenteuer“-Gründer Johannes Plotzki: „Das finde ich gut. Je mehr Klassen rausgehen, umso besser.“

Autor Joachim Göres

Kompakt
In Zeiten von Corona scheint der Unterricht außerhalb der engen Schulräume besonders attraktiv zu sein. Doch schon vor der Pandemie haben einige Schulen den regelmäßigen Unterricht im Freien erprobt. Die Vorbereitung solcher Stunden ist zunächst zeitintensiv, doch dafür berichten die Praktiker von positiven Auswirkungen auf das Lernverhalten ihrer Klassen. Grundsätzlich sollten zwei Lehrkräfte eine Klasse unter freiem Himmel betreuen – dies dauerhaft zu organisieren ist nicht immer einfach.