Klett-Themendienst Nr. 101 (07/2021)

Laut einer aktuellen Studie führen verbindliche Grundschulempfehlungen in Bayern, Brandenburg und Thüringen zu besseren Leistungen aber auch zu mehr Stress bei den Kindern. Besonders in Baden-Württemberg ist das Thema umstritten. Welcher Weg ist der richtige?

Nach der vierten Klasse wechseln die meisten Mädchen und Jungen von der Grundschule auf weiterführende Schulen – nur in Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern findet dieser Schritt zwei Jahre später statt. Die Lehrerinnen und Lehrer geben eine Empfehlung ab, bei der in der Regel neben den Noten auch die Leistungsentwicklung und die Arbeitshaltung des Kindes eine Rolle spielen. Letztlich entscheiden in den meisten Bundesländern die Eltern, an welchem Schultyp sie ihren Nachwuchs anmelden – in Bayern, Thüringen und Brandenburg ist die Empfehlung der Grundschule dagegen verbindlich, die Noten sind ausschlaggebend. Kinder, die dort ohne eine entsprechende Empfehlung aufs Gymnasium wechseln wollen, müssen mehrere Tage erfolgreich an einem Probeunterricht teilnehmen.

Wie wirkt es sich aus, wenn Eltern und Kinder wissen, dass von der Einschätzung der Grundschule die weitere schulische Laufbahn abhängen kann?

Das wollten die Wirtschaftswissenschaftler Maximilian Bach vom Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung Mannheim und Mira Fischer vom Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung in der in diesem Jahr veröffentlichten Studie „Verbindliche Grundschulempfehlungen“ herausfinden (siehe auch www.zew.de/PU82481). Dazu haben sie unter anderem die Leistungsentwicklung in den Klassen 2, 3 und 4 in Bundesländern mit und ohne verbindlicher Grundschulempfehlung miteinander verglichen. Zudem wurde in Sachsen-Anhalt und Baden-Württemberg, wo 2012 die verbindliche Grundschulempfehlung abgeschafft wurde, die Leistungen der Viertklässler vor und nach der Abschaffung miteinander verglichen.

Das Ergebnis: Die Leistungen der Kinder in Mathematik sowie den sprachlichen Kompetenzen Lesen, Zuhören und Rechtsschreibung sind bei einer verbindlichen Empfehlung deutlich besser, sie verbringen zudem mehr Zeit mit eigenständigem Lernen zu Hause. Bach und Fischer vermuten, dass Mädchen und Jungen aus eigener Motivation mehr lernen, um so ihre Chancen auf den Wechsel auf eine höhere Schulform zu vergrößern – 61 Prozent der Grundschüler:innen geben an, ein Gymnasium besuchen zu wollen. Hinweise dafür, dass Eltern in den Bundesländern mit einer verbindlichen Grundschulempfehlung mehr Druck auf ihre Kinder als in den übrigen Bundesländern ausüben, konnten die Forscher keine finden.

Die goldene Mitte zwischen Schulempfehlung und Elternwille?

Gleichzeitig stellten Bach und Fischer aber fest, dass Viertklässler eine deutlich erhöhte Noten- und Zukunftsangst sowie eine geringere Lernfreude bei verbindlichen Empfehlungen zeigen. „Ob die Grundschulempfehlung verbindlich sein sollte, ist also eng verbunden mit der Frage, ob man im Tausch für bessere Kompetenzen bereit ist, Grundschüler:innen einem erhöhten Leistungsdruck und den damit verbundenen Konsequenzen auszusetzen“, lautet das Fazit der Studienautoren.

Ilka Hoffmann, Vorstandsmitglied der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW), sieht die Studie kritisch. „Die Abwägung zwischen dem Wohlbefinden der Schülerinnen und Schüler und einer mutmaßlich auch nur kurzfristigen Leistungssteigerung wirkt auf Grundschullehrkräfte eher befremdlich“, sagt sie. Verbindliche Empfehlungen seien nicht die Lösung, aber auch nicht der reine Elternwille, da so „eher die Kinder aus bildungsaffinen Familien zum Gymnasium“ kämen. Hoffmann fordert, dass „Eltern, Kinder und die Lehrkräfte gemeinsam den geeigneten Weg finden“ sollten.

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Die Sozialwissenschaftlerin Kerstin Hoenig und der Soziologe Hartmut Esser haben in einer Studie festgestellt, dass eine verbindliche Grundschulempfehlung zu mehr Leistungsgerechtigkeit führen könne, weil dann Mädchen und Jungen aus Akademikerhaushalten trotz schlechter Leistungen nicht mehr einfach auf einem Gymnasium angemeldet werden könnten. Viele Grundschullehrkräfte sind dagegen froh, dass ihre Empfehlung nicht entscheidend ist, aus Angst vor juristischen Anfechtungen durch ehrgeizige Eltern. In den Bundesländern mit verbindlicher Empfehlung kann dies in der Praxis bedeuten, dass Lehrerinnen und Lehrer gegen die eigene Überzeugung eine bessere Einschätzung geben, um Konflikte zu vermeiden – das würde gegen die Argumentation von Hoenig und Esser sprechen.

Unterschiedliche Kinder brauchen unterschiedliche Schularten

Besonders in Baden-Württemberg prallen die unterschiedlichen Positionen aufeinander. Die Landesverbände des Realschullehrerverbandes (RLV) und des Philologenverbandes fordern in einer gemeinsamen Erklärung die Rückkehr zu einer verbindlichen Grundschulempfehlung. Sie führen die im Bundesländervergleich nur noch mittelmäßigen Leistungen der Schülerinnen und Schüler in Baden-Württemberg seit 2016 auf die Abschaffung der Verbindlichkeit im Jahre 2012 zurück. „Das geschundene Bildungssystem im Land braucht endlich mutige, durchdachte Vorstöße und Entscheidungen, um wieder einen der früheren Spitzenplätze im Ländervergleich zu erreichen“, sagt die RLV-Landesvorsitzende Karin Broszat und fügt hinzu: „Eine verbindliche Grundschulempfehlung sorgt dafür, dass Schülerinnen und Schüler an den weiterführenden Schulen des Landes aus einer erfolgsversprechenden Ausgangsposition starten können. Damit ist dies eine Forderung zum Wohle der Kinder. Unterschiedliche Kinder brauchen unterschiedliche Schularten in einem differenzierten, leistungsstarken und stets durchlässigen Schulsystem.“

Ganz anderer Meinung ist Edgar Bohn, langjähriger Leiter einer Grundschule in Freiburg und Vorsitzender des Grundschulverbandes. Er spricht sich gegen die im europäischen Vergleich sehr frühe Trennung von Mädchen und Jungen nach der vierten Klasse aus und fordert dagegen ein inklusives Schulsystem, das erst sehr viel später als derzeit differenziert. „Die Trefferquote der Empfehlung ist relativ gering. Die Chefs von Biontech, die einen Migrationshintergrund haben, bekamen keine Gymnasialempfehlung und sie sind leider kein Einzelfall“, sagt Bohn. Er begrüßt, dass in Baden-Württemberg ab der 1. Klasse mindestens einmal im Jahr mit Eltern und Kind ein Gespräch über den Schulerfolg stattfindet und dass ab der 3. Klasse dabei auch besprochen wird, wie es nach der Grundschule weitergehen soll. „Die Qualität der Beratung ist aber sehr unterschiedlich. Einige Lehrkräfte machen das sehr gut, andere weniger“, sagt Bohn.

Zum Druck auf die Kinder spätestens in der 4. Klasse tragen nach seiner Überzeugung auch die Verkürzung des Abiturs nach zwölf Jahren in seinem Bundesland sowie die Haltung vieler Eltern bei: „Die Allermeisten wollen, dass ihr Kind aufs Gymnasium kommt.“

Autor: Joachim Göres

Kompakt
In den meisten Bundesländern sind die Eltern nicht an die Empfehlung der Grundschule für den weiteren Schulweg ihres Kindes gebunden – sie entscheiden, auf welche weiterführende Schule ihr Mädchen oder ihr Junge gehen soll. Nur in Bayern, Brandenburg und Thüringen sind die Empfehlungen verbindlich. Über das Für und Wider dieser Verbindlichkeit gehen die Meinungen auseinander. Befürworter sprechen von besseren Leistungen. Gegner kritisieren den hohen Druck, dem Kinder ausgesetzt seien und kritisieren, dass die Trefferquote der Empfehlung eher gering sei.

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Ob Kinder Freude am Lernen haben und wie gut der Lernstoff ergo behalten wird, hängt nicht nur an den Lehrmethoden im Unterricht, sondern auch von der Dichte der Lehrpläne ab. Für sehr lernintensive Grundschuljahre entwickelt Klett vielfältige Medienkonzepte, die zum Erreichen der Lernziele dem eigenständigen Wiederholen, Üben und Sichern viel Platz einräumen, wie etwa beim Deutsch-Lehrwerk Piri für Bayern ab 2021.