Klett-Themendienst Nr. 104 (12/2021)

Der Bundesverband Legasthenie und Dyskalkulie kritisiert die unzureichende schulische Förderung von Kindern mit einer Lese-Rechtschreibschwäche bzw. mit einer Rechenschwäche. Wir sprachen darüber mit Annette Höinghaus, Mutter von zwei erwachsenen Kindern mit einer Legasthenie. Sie ist verantwortlich für die Öffentlichkeitsarbeit des Verbandes.

Wie äußert sich eine Legasthenie bei Grundschulkindern?

Sie tun sich sehr schwer beim Schriftspracherwerb. Es gelingt ihnen oft nicht, Buchstaben zu Silben und Silben zu Wörtern zusammenzufügen. Sie müssen sich jedes Wort neu erarbeiten. So entsteht schwerlich ein Lesefluss, auch die Inhalte werden schlechter aufgenommen. Ähnlich ist es beim Schreiben. Die Kinder können beim Schreiben nach Gehör auch lautgetreue Wörter selten richtig auf Papier bringen und schreiben gleiche Worte oft immer wieder anders falsch. Die Ursache für die Legasthenie wie auch bei der Dyskalkulie – Kindern fehlt ein Gefühl für Mengen und Zahlen – liegt in einer neurobiologischen Störung. Jeweils rund fünf Prozent der Kinder sind von einer Legasthenie bzw. Dyskalkulie betroffen. Durch individuelle Förderung können diese Defizite bei Kindern, die sonst über eine normale Begabung verfügen, aber in den meisten Fällen so ausgeglichen werden, dass sie nicht mehr auffallen.

Ihr Verband hat jüngst beklagt, dass die notwendige Förderung zu Corona-Zeiten stark eingeschränkt wurde.

In einer Umfrage in diesem Jahr haben 78 Prozent der Eltern die fehlende individuelle Förderung ihrer Kinder und 71 Prozent die nicht ausreichende Förderkompetenz der Lehrkräfte kritisiert. Diese Kritik betrifft nicht nur den Unterricht unter Corona-Bedingungen. Nach wie vor lernen angehende Grundschullehrkräfte an der Uni nichts über Legasthenie und Dyskalkulie. Es hängt vom Engagement der Lehrer:nnen ab, ob sie sich in ihrer Freizeit zu diesem Thema weiterbilden. Und selbst wenn sie das tun, haben sie im Schulalltag immer weniger Zeit für die gezielte Förderung der betroffenen Kinder, weil sie angesichts von 26 000 fehlenden Lehrkräften an Grundschulen immer häufiger in anderen Klassen einspringen müssen. Dazu kommen immer heterogenere Klassen, in denen oft nicht klar ist, aus welchen Gründen viele Mädchen und Jungen Probleme mit dem Lesen und Schreiben haben. Umso wichtiger wäre der Einsatz eines standardisierten Tests am Ende des 1. Schuljahres – für den muss aber bezahlt werden und dieses Geld fehlt häufig. So kommt es nicht selten, dass erst in weiterführenden Schulen eine Legasthenie festgestellt wird.

Nur Kinder- und Jugendpsychiater sowie psychologische Psychotherapeuten können eine Legasthenie oder Dyskalkulie diagnostizieren. Bei ihnen muss man oft monatelang auf einen Termin warten. Die Kosten für den Besuch übernehmen die Krankenkassen, sie lehnen aber die Übernahme der Kosten für eine außerschulische Förderung ab. Was bedeutet das?

Die Krankenkassen lehnen die Kostenübernahme ab, weil sie sagen, es ist die Aufgabe der Schule, Lesen, Schreiben und Rechnen zu vermitteln. Die ist damit aber oft in diesen speziellen Fällen überfordert. Das Jugendamt kann die Kosten für eine Lerntherapie übernehmen, wenn dem Kind eine seelische Behinderung wegen seiner Legasthenie oder Dyskalkulie droht oder bereits eingetreten ist. So weit wollen es viele Eltern nicht kommen lassen, sie zahlen monatlich 200 bis 300 Euro für eine Lerntherapie aus eigener Tasche. Einer unserer Forderungen ist, dass man gut qualifizierte Lerntherapeuten in der Schule einsetzt, damit sie sich gezielt um die betroffenen Kinder kümmern können.

Was hat es mit dem Nachteilsausgleich für Kinder mit Legasthenie auf sich?

Häufig bekommen die Kinder etwas mehr Zeit für die Klassenarbeiten, doch das hilft ihnen nicht, weil sie ja ihre Rechtschreibfehler nicht erkennen. Bei Aufsätzen, bei denen es um den Inhalt geht, kann die Lehrkraft auf die Beurteilung der Rechtschreibung verzichten. Doch das wird von Schule zu Schule unterschiedlich gehandhabt, es gibt keine einheitlichen Vorschriften. Auch das bemängeln wir.

Gibt es denn nichts Positives?
Doch, es gibt wenige besonders aktive Schulen, die wir in den letzten Jahren zusammen mit der Deutschen Kinderhilfe für ihr Engagement und ihre Konzepte ausgezeichnet haben. 2019 bekam die Bertolt-Brecht-Gesamtschule Bonn den ersten Preis. Dort werden alle Schüler:innen zu Beginn der 5. Klasse getestet. Es gibt je eine Koordinatorin für die Lese-Rechtschreibschwäche und die Dyskalkulie sowie genaue Regelungen zum Nachteilsausgleich. Förderstunden sind im Stundenplan verankert und werden ausschließlich von speziell fortgebildeten Lehrkräften gegeben. Zudem haben alle Klassen zwei Klassenlehrer.

Engagierten Lehrkräften ist es zu verdanken, dass man auch mit Legasthenie oder Dyskalkulie das Abitur und einen Studienabschluss schafft. Wir kennen zahlreiche erfolgreiche Ärzte, Ingenieure, Rechtsanwälte und selbst Journalisten, die im Beruf mit Hilfe von spezieller Software ihre Schwäche ausgleichen können. Und derzeit gibt es bei uns Anfragen von Versicherungen, Krankenkassen, Arztpraxen und Handwerksbetrieben, die angesichts des allgemeinen Fachkräftemangels verstärkt nach Auszubildenden suchen und uns fragen, wie sie Bewerber mit einer Legasthenie oder Dyskalkulie besser unterstützen können. Die Offenheit bei vielen Arbeitgebern ist gewachsen. Vor zwei Jahren suchte das Inkassounternehmen Arvato Financial Solutions unter der Überschrift „Niemnd ist perfkt“ gezielt Mitarbeiter mit Lese-Rechtschreibschwäche. Aber leider gibt es auch immer noch Jugendliche, die die Schulen wegen unzureichender Förderung als Analphabeten verlassen, was bei ihnen neben der fehlenden beruflichen Perspektive zu massiven psychischen Problemen führt.

Das Interview führte Joachim Göres

Kompakt
Ca. 5% aller Schülerinnen und Schüler sind von der Lernstörung Legasthenie und Dyskalkulie betroffen. Um sie besser zu fördern, fordert der Bundesverband eine bessere Aus- und Fortbildung von Lehrkräften, den Einsatz von Lerntherapeuten in der Schule sowie einheitliche Regelungen bei der Bewertung von Schülerleistungen. Unter www.bvl-legasthenie.de stellt der Verband Lehrkräften Handreichungen zu Legasthenie und Dyskalkulie zur Verfügung.

Buchtipp:
Legasthenie und Dyskalkulie werden in der Regel mit eigenen Methoden und Materialien therapiert. Bei Leseschwierigkeiten oder einer leichten Legasthenie helfen schon allgemeinbildende Materialien im Deutschunterricht weiter. Die Zebra-Reihe z. B. enthält Materialien mit Silbendruck, einem klaren Schriftbild und ausreichendem Zeilendurchschuss sowie mit Extra-Aufgaben zum Lesetraining und zur Leseförderung.
https://www.klett.de/lehrwerk/zebra-ausgabe-ab-2018