Klett-Themendienst Nr. 106 (05/2022)
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Stresspuffer im Lehralltag: „Zeiten schaffen, in denen wir einfach nur beisammen sind“

Die Marie-Kahle-Gesamtschule in Bonn hat sich ein umfassendes Gesundheitskonzept erarbeitet. Darin gibt es viele Elemente, die insbesondere die Gesundheit der Lehrerinnen und Lehrer stärken. Warum das so ist, erläutert die Schulleiterin Sabine Kreutzer.

Frau Kreutzer, in einer Befragung für ein Gutachten zur Lehrergesundheit des Aktionsrats Bildung gab ein Drittel der Lehrerinnen und Lehrer an, unter zu hohen Belastungen zu leiden. Was stresst Lehrkräfte am meisten?
Es ist die Vielzahl der zu treffenden Entscheidungen und Interaktionen in kürzester Zeit zu ganz unterschiedlichen Themen und Anliegen. Im Unterricht beispielsweise geht es natürlich um den Stoff aber auch darum, dass Sozialgeschehen im Auge zu behalten und gegebenenfalls zu intervenieren. Außerdem überprüft man permanent, ob der Unterricht gerade richtig passt und darf auch die Diagnostik nicht vernachlässigen. Das alles vor dem Hintergrund einer hohen Frequenz von Unterbrechungen und einer enormen Dichte emotionaler Einzelereignisse innerhalb eines Schultages.

Ihre Schule hat sich ein Konzept erarbeitet, in dem Gesundheit ein Schwerpunkt ist. Welche Elemente dienen der Entlastung der Lehrkräfte?
Der Kern der Entlastung ist unser Unterrichtskonzept nach Dalton. Die Dalton-Pädagogik fußt auf der Erkenntnis, dass man am besten lernt und arbeitet, wenn man Zeit hat, sich mit einem Thema, einem Problem oder einer Frage gründlicher auseinanderzusetzen. Kernelemente sind der 60-Minuten-Rhythmus der Unterrichtsstunden und die tägliche Dalton-Zeit morgens und nachmittags. In dieser Zeit haben unsere Schülerinnen und Schüler Gelegenheit, länger an Aufgaben zu arbeiten oder Inhalte und Materialien zu vertiefen. Insgesamt macht die Dalton-Zeit ein Drittel der Unterrichtszeit  aus – und das tut uns allen gut. Wir müssen nicht permanent unterrichten, und die Kinder müssen nicht permanent unseren Input verarbeiten.

Wie gelingt es Ihnen, sich und ihre Kolleginnen und Kollegen abseits des Unterrichts zu entlasten?
Dafür haben wir mehrere Vereinbarungen getroffen. Einige Beispiele: Erstens ist die Konferenzzeit begrenzt. Wir überziehen sie nicht. Zweitens werden freitags keine Dienstbesprechungen und Schulleitungssitzungen anberaumt, damit die Themen nicht das Wochenende belasten. Drittens wird das Wochenende vom beruflichen Mailverkehr frei gehalten. Konkret heißt das: Alle Lehrkräfte sind gehalten, von Freitag, 16 Uhr, bis Montag, 7.30 Uhr, keine beruflichen Mails zu versenden. Das wissen auch unsere Eltern. Viertens haben wir von 12:45 Uhr bis 13:45 Uhr eine gemeinsame Mittagszeit eingeführt und fünftens gibt es für Konferenzen eine Tandem-Lösung.

Dazu zwei Nachfragen: Wie funktioniert diese Tandem-Lösung?
In Abstimmung mit dem Tandem-Partner ist es jeder Lehrkraft erlaubt, zu sagen, „Ich kann heute nicht an der Konferenz teilnehmen“. Es hat einige Jahre gedauert, bis das Kollegium begann, die Tandemlösung ganz selbstverständlich zu nutzen. Zu Anfang kamen noch rechtfertigende Mails, heute nicht mehr.

Und die zweite Frage: Machen Sie in der Mittagszeit tatsächlich „Pause“?
Nicht unbedingt im Sinne von „Nichtstun“ (lacht). Ich freue mich immer, wenn ich einen Kollegen sehe, der tatsächlich einfach nur auf einem Stuhl in der Sonne sitzt. Aber jede Lehrkraft nutzt diese Mittagszeit anders. Manche essen zusammen mit ihrer Klasse in der Mensa, andere bereiten Unterricht vor, halten eine kurze Team-Besprechung oder treffen sich zum gemeinsamen Mittagessen, wieder andere verabreden sich zum persönlichen Gespräch, auch mit Schülerinnen und Schülern. Wichtig ist, dass wir alle gemeinsam diese verbindliche Mittagszeit haben. Das bringt eine weitere Struktur in den interaktionsreichen Tag.      

Was hält Lehrkräfte in der Schule gesund?
Gesund hält uns vor allem, wenn wir uns da, wo wir arbeiten, wohl fühlen und etwas tun,  worin wir einen Sinn erkennen. Wir achten deshalb auf einen wertschätzenden, höflichen und respektvollen Umgang miteinander. Dass wir einander wahrnehmen und uns grüßen, ist mir zum Beispiel sehr wichtig; und dazu erziehen wir auch unsere Schülerinnen und Schüler. Ich finde, dass der Sinn unseres Berufes, die Freude am Unterrichten und am Umgang mit jungen Menschen, in diesem ganzen Wust von Ansprüchen an unseren Beruf nicht untergehen darf. Und natürlich muss ich hier als Schulleiterin auch ein Vorbild sein.   

Welche Rituale oder Gewohnheiten haben Sie entwickelt, um dieses gesund erhaltende Arbeitsklima zu stärken?
Das gute Klima ist uns allen sehr wichtig, jede und jeder tut etwas dafür. Es ist zum Beispiel üblich, dass Kollegen, die etwas zu feiern haben, etwas mitbringen – einen Kuchen, eine Schale Obst, was auch immer. Wir haben im Corona-Winter eine Weihnachtsfeier im Hof gemacht, weil es mir wichtig ist, Zeiten zu schaffen, in denen wir einfach nur beisammen sind. Wir lassen uns auch von einem Team externer systemischer Coaches begleiten. An einem Fortbildungstag haben wir zum Beispiel bewusst entschieden, nichts Neues zu entwickeln, sondern nur zusammenzustellen, was uns gut gelingt und was wir auch bewahren wollen. Dabei sind wunderbare Bilder und Collagen entstanden, die im Foyer hängen und uns daran erinnern, was wir können und täglich tun.      
Das Gespräch führte Inge Michels

Kompakt
Die Schulleiterin Sabine Kreutzer ist davon überzeugt, dass ein gutes Schulklima, konkrete Entlastungen und das Gefühl des sinnvollen Tuns Lehrkräfte gesund halten. Dafür wurden an der Marie-Kahle-Gesamtschule in Bonn verschiedene Vereinbarungen getroffen, zum Beispiel die Tandem-Lösung für Konferenzen, eine verlässliche gemeinsame Mittagszeit und externes Coaching.

Buchtipp:
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