Klett-Themendienst Nr. 106 (05/2022)

Die Gesundheit von Lehrkräften wird durch außergewöhnliche Belastungen infolge der Pandemie und dem Ukrainekrieg einem beispiellosen Stresstest unterzogen. Auch das Kollegium des Hainberg-Gymnasiums in Göttingen bekommt die Auswirkungen der internationalen Krisen zu spüren. Mit einem multiprofessionellen Beratungsteam versucht es, dagegen zu halten.

Wie die Belastungen für Lehrkräfte steigen und steigen, das bringt der Elternbrief des Schulleiters Georg Bartelt vom Hainberg-Gymnasium in Göttingen zum Ausdruck. Er hat ihn Ende März 2022 auf der Schulhomepage veröffentlicht: „So schwer wie heute ist mir der Einstieg in diesen Brief an Sie bzw. Euch alle noch nie gefallen. Noch vor vier Wochen hatte ich vor – mit Blick auf den erwachenden Frühling –, die nachlassende Dramatik der Corona-Pandemie in der Schule zu beleuchten … Dann jedoch überfiel Präsident Putin mit seiner Armee am 24.2.2022 die Ukraine und entfachte einen Krieg auf europäischem Boden. Wir stehen sprachlos und erschüttert vor den Bildern, die jeden Abend mit der Tagesschau und dem anschließenden Brennpunkt in unsere Wohnzimmer kommen. Man möchte handeln und fühlt sich doch ohnmächtig.“

Gesellschaftliche und politische Spannungen manifestieren sich in der Schule

Eine Krise jagt die andere. „Zeitenwende“, laut Bundesregierung. Die Gesundheit von Lehrkräften wird durch außergewöhnliche Belastungen infolge der Pandemie, dem Ukrainekrieg, Kriegs- und Klimaflüchtlingen einem beispiellosen Stresstest unterzogen. „Schule ist ein Spiegel der Gesellschaft und Lehrkräfte erleben derartige Entwicklungen an vorderster Front“, sagt Udo Beckmann, Bundesvorsitzender des Verbandes Bildung und Erziehung (VBE) am 27. April 2022. Das größere Ganze, die Rahmenbedingungen, um in einer gesunden Schule zu arbeiten, sind derzeit denkbar ungünstig.

„Konflikte, wie wir sie derzeit in der Ukraine sehen, aber auch vergleichbare Vorgänge, wie beispielsweise der Nahostkonflikt oder Aspekte gesellschaftlicher Weiterentwicklungen wie Diversität, ein sensibler Umgang mit Genderthemen oder Teilhabe von Minderheiten müssen von Lehrkräften eingeordnet und vermittelt werden. Hinzu kommt, dass durch gesellschaftliche Spannungen, die in die Schulen hineingetragen werden, Lehrkräfte zunehmend Opfer psychischer oder gar physischer Gewalt würden.“, erklärt Udo Beckmann. „All diese und viele weitere gesellschaftliche und politische Aspekte wirken sich direkt auf den Arbeitsalltag an Schule aus und beeinflussen das Stresserleben unmittelbar“, so Beckmann.

Am vorletzten Tag vor den Osterferien 2022 hat Schulleiter Georg Bartelt vom Hainberg-Gymnasium in Göttingen 35 Notierungen auf dem Vertretungsplan im Dienstzimmer. „Wir haben langzeiterkrankte Lehrkräfte und ganz normal erkrankte Lehrkräfte. Viele haben es in der Pandemie mit der Angst zu tun bekommen, weil sie vulnerabel sind. Wenn wegen Corona so sehr gelüftet werden muss, dass die Temperatur im Klassenraum nur noch zehn Grad beträgt, dann verschlechtert sich die Gesundheit von Lehrkräften etwa mit Rheuma“, erläutert Schulleiter Georg Bartelt vom Hainberg-Gymnasium in Göttingen. Des Weiteren machten vielen Lehrkräften die Fülle an Vorschriften und Regelungen, die sich dauernd ändern, das Leben schwer.

Wenn nur noch die Effizienz des Schulbetriebs regiert

„Alles, was Schule eigentlich lebenswert macht, Gemeinschaft, Theaterspiel und vieles andere mehr, weicht der Effizienz des Tagesgeschäfts, wo die nackte Existenz zählt. Das zehrt an Körper und Seele bei den Lehrkräften“, so der Schulleiter des Hainberg-Gymnasiums.  

Mit der Einschätzung, dass die Belastungen für Lehrkräfte zunehmen, steht der Schulleiter aus Niedersachsen nicht allein. Laut einer Forsa-Umfrage im Auftrag des VBE im September und Oktober 2021 (1.300 Schulleiterinnen und Schulleiter wurden befragt) sind 97 Prozent der Schulleitungen in Deutschland der Ansicht, dass sich die Anforderungen an die Kolleginnen und Kollegen in der Zeit der Corona-Pandemie erhöht haben. Die Hälfte der Schulleitungen verzeichnet langfristig, krankheitsbedingt Ausfälle im Kollegium. 68 Prozent der Schulleiterinnen und Schulleiter in Deutschland meinen, dass sie nicht genügend Möglichkeiten hätten, dazu beizutragen, dass die Lehrkräfte an ihrer Schule möglichst gesund bleiben. „Das ist eine Belastung, die man von außen nicht sieht“, sagt Sabine Brumby-Hartogh, Lehrerin für Deutsch, Englisch am Hainberg-Gymnasium.

Bund, Länder und Kommunen als Verantwortungsgemeinschaft

Was sind die wirksamsten Maßnahmen, um die Gesundheit von Lehrkräften und Schulleitungen zu fördern und zu erhalten? „An erster Stelle muss der eklatante Lehrkräftemangel endlich angegangen werden. Die ständige personelle Unterdeckung erhöht die Belastungen, was letztendlich zu einer weiteren Verschärfung der personellen Situation führt. Hierfür braucht es dringend Personalgewinnungsmaßnahmen. Bund, Ländern und Kommunen müssen hierbei als Verantwortungsgemeinschaft auftreten.“, so Udo Beckmann vom VBE.

Unterstützung sehen Lehrkräfte laut Udo Beckmann auch durch multiprofessionelle Teams, beispielsweise aus Schulpsychologinnen und Schulpsychologen, Schulsozialarbeiterinnen und Schulsozialarbeitern sowie Schulgesundheitsfachkräften. Sie könnten Lehrkräfte gezielt bei den Aufgaben unterstützen, für die sie nicht originär ausgebildet seien. Das multiprofessionelle Beratungsteam des Hainberg-Gymnasiums in Niedersachsen ist Schritt für Schritt gewachsen. Es hat sich aus den konkreten Herausforderungen heraus entwickelt, die sich im Schulalltag stellten. „Wir versuchen bei Problemen, niederschwellig anzusetzen und ein passendes Beratungsangebot für das Problem vorzuschlagen“, so Sabine Brumby-Hartogh.

Entlastung durch multiprofessionelle Teams und Coaching

Das Team besteht aus Beratungslehrkräften, Beauftragten für Coaching, Inklusion, Mobbing, Sucht- und Gewaltprävention, Begabtenförderung, Schulsozialpädagogen, LSBTIQ-Vertrauenslehrerin, Streitschlichtern, SchülervertreterInnen und einem Schulseelsorger. Der Schulseelsorger wurde laut Sabine Brumby-Hartogh in das Team aufgenommen, als eines Tages ein Schüler mit dem Fahrrad ums Leben gekommen war. Er stand Gymnasiastinnen und Gymnasiasten bei ihrer Trauer zur Seite gehört seitdem zum Beratungsteam.

Bei Konflikten zwischen Schülerinnen und Schülern, bei persönlichen, häufig familiären Problemen, bei ausgeprägten Ängsten oder Verhaltensauffälligkeiten im Unterricht können sich Lehrkräfte sowie Schülerinnen und Schüler an Beratungslehrkräfte wenden. Inzwischen haben fast 20 Lehrkräfte eine zweijährige, berufsbegleitende Ausbildung mit dem Schwerpunkt des systemischen Beratungsansatzes und der klientenzentrierten Gesprächsführung absolviert. „Wir haben zum Beispiel Coaching als Angebot für Schülerinnen und Schüler ab der achten Klasse, wenn sie beispielsweise in der Schule nicht gut klarkommen oder sie selbst merken, dass sie keine angemessene Leistung erbringen. Das Coaching ist freiwillig und vertraulich und wird durch Lehrkräfte angeboten, die den Schüler oder die Schülerin nicht unterrichten“, so Brumby-Hartogh. Mit der Coachingausbildung haben die Lehrkräfte nebenbei ihre Stresskompetenz gestärkt.

Während des Homeschoolings abgetaucht

„Die Zeit des Homeschoolings war sehr schwer für uns als Lehrerinnen und Lehrer. Erst allmählich habe ich wahrgenommen, dass einzelne Schülerinnen und Schüler abgetaucht sind. Diese habe ich versucht, im Beratungsteam an einen Coach zu vermitteln“, so Sabine Brumby-Hartogh. Entlastend wirke die gute Kommunikation im Beratungsteam und auch die enge Kooperation zwischen den Klassenteams.

Frühere Evalutionen haben gezeigt, dass die Mehrheit der Schülerinnen und ihrer Eltern das Hainberg-Gymnasium als einen einladenden und freundlichen Ort wahrnehmen. Das Zugehörigkeitsgefühl ist ein wichtiger Indikator für eine gesunde Schule, egal ob es sich um Lernende oder Lehrende handelt. Leon, 6a, sagt: „Ich bin hierhergekommen, weil ich das Gefühl habe, ich gehöre hierher“. Er hat seinen Platz in der Schule, stellvertretend für einen Platz einer krisenhaften Welt gefunden.
Autor: Arnd Zickgraf

Kompakt
Deutschlands Schulen leisten viel, obwohl sie seit Jahren unter enormen Krisenbedingungen arbeiten. Wie sich das auf Gesundheit und Bildungsqualität auswirkt, darum geht es auf dem diesjährigen Klett Campus unter dem Motto „LehrKräfte stärken“. Zwischen dem 6. und 13. Mai wird unter https://www.klett.de/campus ein umfangreiches und prominent besetztes Programm aus Live-Talks, Workshops und Fortbildungen gesendet. Neben Udo Beckmann kommen viele weitere Expertinnen, Coaches und Mediziner zu Wort.