In Deutschland sind nach Schätzungen aktuell eine Million Kinder und Jugendliche Opfer von sexueller Gewalt geworden. Von ihnen gehen rund 600 000 zur Schule. Somit kann man bei bundesweit 400 000 Schulklassen im Schnitt von ein bis zwei betroffenen Schülerinnen und Schülern pro Klasse ausgehen. Diese Zahlen liefert der Unabhängige Beauftragte für Fragen des sexuellen Kindermissbrauchs (UBSKM) beim Bundesfamilienministerium in einem Bericht aus diesem Jahr.
Nirgendwo sonst außerhalb des Elternhauses verbringen Kinder und Jugendlichen so viel Zeit wie in der Schule. Laut Studie zur Jugendsexualität der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung sind Lehrkräfte für 14-17-Jährige bei Jungen die wichtigsten Ansprechpartner in Fragen der sexuellen Aufklärung, bei Mädchen in diesem Alter stehen sie an dritter Stelle. Lehrkräften kommt somit auch eine wichtige Rolle dabei zu, auf Nöte von Kindern und Jugendlichen zu reagieren und auch Anzeichen für sexuellen Missbrauch zu erkennen sowie Hilfe anzubieten.
In der Praxis herrscht dagegen eine große Unsicherheit, wie man sich in einer konkreten Situation verhalten soll.
In einer Stellungnahme aus dem vergangenen Jahr zum neuen Schulgesetz in Nordrhein-Westfalen hat der Betroffenenrat beim UBSKM seine Erfahrungen zusammengefasst: „Es gibt viele Schulen, die das für sie zuständige Jugendamt nicht kennen oder die Polizei nur von der Verkehrserziehung…In Gesprächen mit Lehrpersonal zeigt sich immer wieder, welche vermeidbaren Hürden dieses ‚Nicht-Kennen‘ mit sich bringen und wieviel Angst teilweise herrscht, zum Hörer zu greifen und sich beraten zu lassen. Auch hier lässt sich erkennen, dass sich zu viele bei Verdachtsmomenten entscheiden, nichts zu tun, bevor sie etwas ‚Falsches‘ tun.“ An anderer Stelle heißt es: „Auch ansonsten ist das Problem nicht das angebliche Nicht-Sprechen der Kinder, sondern die Tatsache, dass sich ein Kind aktuell an sechs bis sieben Erwachsene wenden muss, bevor ihm endlich geholfen wird.“
Vor welchen Fragen Lehrkräfte im schulischen Alltag stehen, beschreibt die Berliner Grundschullehrerin Eva Kubitza: „Ein Kind möchte nicht nach Hause, weil es Angst vor seinem Vater hat. Es kann nicht in Worte fassen, was zu Hause vorgefallen ist, und ich vermag nicht die richtigen Fragen zu stellen und weiß im Grunde auch nicht, wie tief ich überhaupt fragen sollte. Natürlich habe ich ein sehr ungutes Gefühl. Die Andeutungen des Kindes gehen in Richtung sexualisierte Gewalt und ich frage mich, was ich nun machen soll. Wer kann jetzt helfen?“ Kubitza fragt sich, was sie im Studium und im Referendariat verpasst hat, dass sie so hilf- und ahnungslos reagiert. Ihre Antwort: „Nichts. Es ist nämlich möglich, ein Lehramtsstudium erfolgreich abzuschließen, ohne auch nur ein einziges Seminar zur Prävention von und Intervention bei sexualisierter Gewalt besucht zu haben.“
Die Erfahrungen von Kubitza finden sich im Abschlussbericht des dreijährigen Forschungsprojektes „Sexuelle Bildung für das Lehramt“, der kürzlich unter dem Titel der Studie im Psychosozial-Verlag veröffentlicht wurde. Für das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützte Projekt haben Wissenschaftler der Universität Leipzig und der Hochschule Merseburg 2019 jeweils rund 950 Lehrkräfte und 950 Lehramtsstudierende vor allem aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Niedersachsen befragt.
Nur 23 Prozent der Lehrkräfte und 36 Prozent der Studierenden berichten, dass es im Studium Angebote zur Sexuellen Bildung gab.
Das Thema Prävention sexualisierter Gewalt spielte nur bei zehn bzw. zwölf Prozent im Studium eine Rolle. Von den Biologie- und Sachkunde-Lehrkräften gaben 73 Prozent an, dass sie mindestens zwei Unterrichtseinheiten zum Thema Sexuelle Bildung durchgeführt haben. Bei den Lehrkräften für Ethik und Religion lag dieser Anteil bei 63 Prozent, bei den übrigen Fächern bei 34 Prozent. Auch weitere Ergebnisse der Studie weisen darauf hin, dass Lehrkräfte bestimmter Fächer als zuständig für Fragen der Sexualität angesehen werden. Die an der Studie beteiligte Kriminologin Heike Holz betont dagegen: „Damit Schulen ihren Präventionsauftrag wahrnehmen können, müssen alle an Schulen tätigen Personen handlungssichere Ansprechpartner*innen für Schüler*innen sein.“
In ihren Fortbildungen für Lehrkräfte erlebt Holz immer wieder überraschte Reaktionen, wenn sie auf die Bedeutung der pädagogischen Haltung hinweist, zu der gehöre, bereits „Kinder in ihren Gefühlen und Ängsten ernst zu nehmen, sie mitbestimmten zu lassen, ihnen beizubringen, ihre Geschlechtsteile korrekt zu benennen…und dabei zu betonen: Niemand darf dir wehtun oder dich gegen deinen Willen berühren“.
Um die eigene Haltung ging es auch in der Studienbefragung. Was würde man tun, wenn eine Schülerin oder ein Schüler von sexuellen Übergriffen berichtet? 65 Prozent würden wie von der Fachwelt empfohlen zum Kontakt mit einem Schulsozialarbeiter oder einer Beratungsstelle raten. 18 Prozent würden selber das Gespräch mit den Eltern suchen. 14 Prozent würden die Polizei einschalten.
46 Prozent gaben an, dass an ihrer Schule ein Hilfesystem im Verdachtsfall sexualisierter Gewalt existiert, 14 Prozent verneinten dies, 42 Prozent war solch ein Hilfesystem nicht bekannt. Holz verweist dagegen auf Untersuchungen, wonach nur jede zehnte Schule ein umfassendes Schutzkonzept hat. Der UBSKM-Betroffenenrat fordert in seiner Stellungnahme zum NRW-Schulgesetz ein Schutzkonzept für jede Schule.
Heinz-Jürgen Voß, Professor für Sexualwissenschaft an der Hochschule Merseburg, hat ein Curriculum „Sexuelle Bildung im Lehramt“ entwickelt, dass bereits mehrfach an der Uni Leipzig angeboten wurde (siehe auch https://sebile.de). Bei einem Angebot darf es aus seiner Sicht nicht bleiben: Für alle Lehramtsstudierenden sollte das Thema Sexuelle Bildung und Prävention von sexualisierter Gewalt sofort fächerübergreifend verpflichtender Teil ihrer Ausbildung an der Universität und im Referendariat werden. Zudem sollten alle Lehrkräfte unabhängig von ihrem Fach und ihrer Schulform an Fortbildungen teilnehmen, zunächst freiwillig, später verpflichtend.
Unter www.was-ist-los-mit-jaron.de findet sich eine vierstündige digitale Fortbildung des UBSKM. Weitere Informationen liefert die Homepage www.schule-gegen-sexuelle-gewalt.de
Autor: Joachim Göres