Klett-Themendienst Nr. 109 (10/2022)

In den letzten Jahren ist die Zahl der Mädchen und Jungen gestiegen, die nicht schwimmen können. Mit unterschiedlichen Ideen versuchen Schulen gegenzusteuern.

Viele Kinder können nicht schwimmen – eine Klage, die immer häufiger zu hören ist. So ist im Bundesland Bremen nach Behördenangaben der Anteil der Nicht-Schwimmer unter den Drittklässlern von 22 Prozent am Ende des Schuljahres 2015/16 auf 38 Prozent im Schuljahr 20/21 gestiegen. Bremen reagiert darauf mit längeren Übungszeiten im Wasser: Mit Beginn des neuen Schuljahres sollen durch eine andere Organisation des Transports zu den Schwimmbädern alle Drittklässler 45 Minuten pro Woche das Schwimmen lernen – bisher stand dafür nur eine halbe Stunde zur Verfügung. Zudem ist geplant, dass künftig in Bremen bereits in der zweiten Klasse der Schwimmunterricht beginnen soll. Eine Besonderheit im kleinsten Bundesland: Dort wird der Unterricht von Schwimmmeister:innen und nicht von Sportlehrer:innen erteilt.

„Auch in Hamburg sind die Schulen nicht mehr für den Schwimmunterricht verantwortlich. So ein Modell lehnen wir ab. Die Aufsicht sollte bei den Lehrkräften bleiben, im Einzelfall können Schwimmmeister den Unterricht unterstützen“, sagt Helge Streubel, zweiter Vorsitzender des Landesverbandes Sachsen-Anhalt des Deutschen Sportlehrerverbandes mit langjähriger Erfahrung im Schwimmunterricht und in der Ausbildung von Fachlehrkräfte. In Sachsen-Anhalt wie auch in vielen anderen Bundesländern beginnt der Schwimmunterricht in der 3. bzw. 2. Klasse, mindestens 30 Schwimmstunden mit jeweils 45 Minuten sind vorgesehen. Das entspricht der Handlungsempfehlung der Kultusministerkonferenz.

In der Praxis gebe es aber laut Streubel große Unterschiede je nach Region: „In Sachsen-Anhalt liegt die Obergrenze pro Schwimmgruppe bei 16 Kindern, in Nordrhein-Westfalen können es auch mehr als 30 Kinder sein. Im Westen reicht zudem oft die Infrastruktur nicht aus, nachdem Bäder geschlossen wurden.“ Wichtig sei zudem, auch in den weiterführenden Schulen Schwimmen anzubieten, um die Zahl der Nichtschwimmer – Streubel schätzt sie auf 25 bis 30 Prozent nach der Grundschulzeit – zu reduzieren. In Sachsen-Anhalt stehen dafür laut Lehrplan 15 Unterrichtseinheiten zwischen der Klasse 5 und 8 zur Verfügung. „Allerdings setzen längst nicht alle Schulen die Lehrplanvorgaben um“, schränkt Streubel ein.

Ein weiteres Problem: Es fehlen Fachkräfte – an manchen Grundschulen gibt es keine ausgebildeten Sportlehrer:innen. Die Anforderungen an den Nachweis, im Notfall Kinder retten zu können, sehen zudem unterschiedlich aus: Im Osten wird das Deutsche Rettungsschwimmabzeichen verlangt, während in sechs alten Bundesländern Lehrkräfte auch mit zum Teil deutlich geringerer Qualifikation Schwimmen unterrichten dürfen. Im Osten müssen Sportlehrkräfte außerdem alle zwei bis vier Jahre Rettungs-Auffrischungskurse belegen, in Bayern und Baden-Württemberg gibt es dagegen keine Pflicht dazu.

In der Praxis sind die Unterschiede zwischen Orten mit und ohne Hallenbad gravierender. Für die Oberschule Lachendorf in Niedersachsen ist das nächste Hallenbad mehr als zehn Kilometer entfernt – es bleiben wegen des langen Weges maximal 30 Minuten Zeit im Schwimmbecken. Nicht zuletzt wegen der stark gestiegenen Nicht-Schwimmerzahlen als Folge der Corona-Bäderschließungen hat sich OBS-Sportlehrer Nils Bürgel ein neues Modell ausgedacht: Kurz vor den Sommerferien gab es für die 5. Klässler eine Projektwoche Schwimmen im nahegelegenen Freibad. Jeweils drei Zeitstunden am Vormittag unterrichteten zehn Lehrkräfte 86 Mädchen und Jungen, davon ein Drittel Nicht-Schwimmer. „Das bringt mehr als eine Doppelstunde pro Woche“, sagt Bürgel.

Er kümmerte sich um fünf besonders schwierige Fälle. Zwei Kinder trauen sich nicht mit dem Kopf unter Wasser, damit sie kein Wasser in die Nase bekommen. Bürgel gibt ihnen Taucherbrillen – die im normalen Schwimmunterricht nicht erlaubt sind –, so dass sie ohne Not erste Erfahrungen unter Wasser sammeln können. Dann wird die Taucherbrille weggelassen und sie halten sich die Nase mit der Hand zu. Schließlich haben sie so viel Vertrauen aufgebaut, dass sie sich mit offener Nase unter die Wasseroberfläche wagen, nachdem sie gelernt haben, wie sie ausatmen und im Wasser gleiten können. Beiden gelingt es am Ende der Woche, 25 Meter zu schwimmen, vom Beckenrand zu springen und einen Gegenstand aus schultertiefem Wasser herauszuholen – die Bedingungen für das Seepferdchen-Abzeichen.

Ein Mädchen, das unter Neurodermitis leidet, fängt immer an zu weinen, sobald ihre Haut mit Wasser in Berührung kommt. Zwei Klassenkameradinnen können sie ohne Protest zu einem Gang durchs Nicht-Schwimmerbecken animieren. Am Ende der Projektwoche bewegt sie sich aus eigenem Antrieb auf einer Schwimmnudel durch das Becken. „Das hat mich sehr gefreut. Es läuft viel über Wassergewöhnung und funktioniert ganz kleinteilig, mit vielen Stempeln in kleinen Pässen für jede neue Leistung als Motivation“, sagt Bürgel. Eine Erfolgsgarantie gibt es nicht: Ein Junge verweigert standhaft den Schritt ins kühle Nass.

Am Ende haben von den knapp 30 Nicht-Schwimmern drei das Seepferdchen- und 14 das Bronzeabzeichen geschafft. Und auch viele Schwimmer konnten sich verbessern: 15-mal wurde die Prüfung für Silber abgenommen, neun Mal für Gold und 17 Mal für Totenkopf.
Kleinteilig – das ist auch das Vorgehen von Christina Schmidt, Referentin für Fortbildung im Anfängerschwimmen mit mehr als 40 Jahren Lehrerfahrung. In der Zeitschrift „Sportunterricht“ beschreibt sie, wie sie von Anfang an das richtige Atmen vermittelt: „Die Lernenden erdulden Wasser im Gesicht. Wasserspritzer in den Augen werden durch schnelles Öffnen und Schließen der Lider ‚weggeblinkert‘, die Atmung durch Mund und Nase ist ungehindert, sie tauchen den Körper bis zum Hals.“ Wichtig sei zu beobachten, wie Kinder auf Wasser im Gesicht reagieren, um dann in Kleingruppen je nach Akzeptanz des Wassers schneller oder langsamer weiterzumachen. Im nächsten Schritt geht es darum, das Gesicht vollständig aufs Wasser zu legen und durch Mund und Nase ins Wasser auszuatmen. Es folgt das Untertauchen des ganzen Körpers, wobei durch Mund und Nase ausgeatmet und dann die Luft angehalten wird, um schließlich die Augen unter Wasser zu öffnen.

Im neuen Schuljahr hat die Oberschule Lachendorf, wo die Klassen 5 bis 10 unterrichtet werden, nur eine Bahn einmal die Woche in einem Hallenbad bekommen. Das bedeutet, dass nur ein Jahrgang im Schwimmen unterrichtet werden kann. „Das werden die jetzigen 6. Klassen sein, denn es ist wichtig, dass wir an die in der Projektwoche gemachten Erfahrungen anknüpfen und nicht alles in Vergessenheit gerät“, sagt Bürgel und fügt hinzu: „Viele Eltern denken, dass ihr Kind schwimmen kann, wenn es das Seepferdchen schafft. Doch das ist ein Irrtum. Dafür ist mindestens Bronze notwendig.“ Die neuen 5. Klassen, in denen Bürgel noch mehr Nicht-Schwimmer vermutet, müssen bis Ende dieses Schuljahres warten – dann soll wieder eine Projektwoche Schulschwimmen für die 5. Jahrgangsstufe stattfinden.

Autor: Joachim Göres

Kompakt
Viele Eltern überschätzen die Fähigkeiten ihrer Kinder im Wasser. Praktiker gehen davon aus, dass rund 30 Prozent am Ende der Grundschulzeit nicht sicher schwimmen können. Dazu tragen der Ausfall des Schwimmunterrichts wegen der Pandemie, aber auch ein Mangel an Sportlehrer:innen und zu wenig Schulzeiten in Hallenbädern bei. Die drohenden Schließungen vielerorts als Folge hoher Energiepreise könnten die Lage verschärfen. An der Oberschule Lachendorf reagiert man auf die Probleme.