Klett-Themendienst Nr. 109 (10/2022)

In Gedenkstätten und bei Zeitzeugengesprächen begeben sich Jugendliche der 9. oder 10. Klassen auf die Spuren eines nicht mehr existierenden Staates. Was sie dabei entdecken, hängt maßgeblich von der Fragestellung ab.

Zehn Fotos liegen vor den Lernenden der 10. Klasse der Saaleschule aus Halle. Zu sehen sind unter anderem Bilder vom Mauerbau, von der Konferenz in Potsdam, von der Luftbrücke. Die Aufgabe: Die Jugendlichen sollen sie zeitlich richtig einordnen. Nach einigen Diskussionen haben sie sich auf eine Reihenfolge geeinigt. Das erste Foto zeigt eine Aufnahme vom Kriegsende aus Berlin, das letzte tanzende Menschen am Tag des Mauerfalls. Dann sollen sie den Fotos die passenden Jahreszahlen zuordnen. Das gelingt weitgehend – nur bei der Gründung der beiden deutschen Staaten liegen sie knapp daneben, die Daten für den Nato-Doppelbeschluss und das Transitabkommen werden miteinander vertauscht.

Alles Dinge, die für die heute 15- und 16-Jährigen Geschichte sind. Am historischen Ort können sie einen Eindruck bekommen, was so ein abstrakter Begriff wie das 1972 abgeschlossene Transitabkommen konkret bedeutet hat: Die Klasse besucht die Gedenkstätte Marienborn, wo einst Millionen von Westdeutschen von DDR-Grenzern auf ihrem Transit durch die DDR nach West-Berlin kontrolliert wurden. Nach der Aufgabe mit den Fotos erkundet die Klasse in Kleingruppen anhand von Arbeitsaufträgen das acht Hektar große Gelände, auf dem Kontrollhäuschen, Gebäude der Zollabfertigung, Kommandantenturm oder Rollsperren weitgehend erhalten geblieben sind. In den Räumen finden sich Ausstellungstafeln, Fotos, Hör- und Bildstationen, die an die einstige größte innerdeutsche Grenzübergangsstelle erinnern.

Carlotta, Max und Konrad schauen sich die Zollbaracken näher an, registrieren die Türen mit kleinen Gucklöchern, die Neonleuchten, die Abfertigungsschalter. Eine besondere Faszination üben die vielen Spiegel an den Wänden aus. „Das ist echt spacig hier“, rufen sich die Jugendlichen lachend zu. An Hörstationen können sie Berichte von ehemaligen Zöllnern hören. „Sie waren vom Staat überzeugt, außerdem war der Verdienst gut und sie bekamen eine Wohnung gestellt“, fasst Carlotta für den Rest der Klasse zusammen, was sie sich notiert hat.

Chiara, Fiona und Nina hat die Fließbandanlage beeindruckt, auf der die Pässe der Reisenden in die Kontrollbaracke transportiert wurden. „Es ist schon krass zu sehen, wie es hier vor noch nicht langer Zeit aussah“, sagt Nina und fügt hinzu: „Ich bin überrascht von dem großen Aufwand, der einst getrieben wurde, damit der Staat alles unter Kontrolle hatte.“ Insgesamt wirkt das große Gelände mit dem hohen Lärmpegel von der angrenzenden sechsspurigen Autobahn Hannover-Berlin auf sie eher öde – interessanter sei auf dem Weg nach Marienborn der Besuch im nahegelegenen Hötensleben gewesen, wo Teile der Grenzmauer erhalten geblieben sind und ein Zeitzeuge vom Leben an der einstigen Grenze berichtete.

„Marienborn ist im Osten nicht so bekannt, denn als normaler DDR-Bürger ist man ja gar nicht hierher gekommen“, sagt Klassenlehrerin Heike Haußner. „Wir haben hier mehr Besucher aus dem Westen, weil sie konkrete Erinnerungen an diesen Ort auf ihren Fahrten nach Berlin oder bei der Einreise in die DDR haben“, bestätigt die Historikerin Insa Ahrens, pädagogische Mitarbeiterin der Gedenkstätte. Bei gemeinsamen Projekten von Klassen aus Sachsen-Anhalt und Niedersachsen gebe es keine großen Unterschiede, was Fragen und Interesse betreffe.

Zeitreise_DDR_2022 
Geschichtsbücher als Teil der öffentlichen Erinnerung, aus „Zeitreise 3“ Klasse 9/10, 2022

Westreiseverbot, Überwachung durch die Staatssicherheit, Festnahmen, Waffengebrauch an der Grenze, Unterdrückung von Oppositionellen, keine Pressefreiheit – das sind einige der Themen, die in der Ausstellung und im Gespräch in Marienborn im Mittelpunkt stehen und die die DDR als Diktatur schildern. „Wir stellen nicht in Frage, dass die DDR eine Diktatur war, doch der Aspekt des Alltags derjenigen Menschen, die sich nicht als Opfer fühlten, ist ebenso wichtig – gerade um zu verstehen, warum die DDR so lange bestehen konnte“, sagt Sven Gatter. Der Fotograf und Pädagoge arbeitet beim 2013 gegründeten Verein „Perspektive hoch 3“, der SchülerInnen das Leben von ostdeutschen Bürgern näherbringen will, die ab 1975 geboren wurden und die deswegen auch als dritte DDR-Generation bezeichnet werden. „Die waren zur Zeit der Friedlichen Revolution und der Vereinigung der beiden deutschen Staaten ungefähr so alt wie die Jugendlichen, die wir heute in den Schulen in den 10. Klassen treffen, wenn die DDR Thema im Unterricht ist. Das ist ein guter Anknüpfungspunkt“, sagt Gatter.
Zeitzeugen aus dieser dritten Generation gehen mit Vereinsvertretern an Schulen und berichten über Themen wie Sommerferien, Erziehung und Schule, Familienleben, Sport- und Freizeitbeschäftigung in der DDR oder auch Gewalt und Drogen in der Wendezeit, als viele Jugendliche auf der Suche nach Stabilität in einer instabilen Gesellschaft waren. Themen, die bei den Jugendlichen auf offene Ohren stoßen – gerade auch, wenn es darum geht, wie die Gegenwart durch solche Erfahrungen geprägt wird. „Wir wollen durch das Gespräch mit Zeitzeugen auch das Gespräch in den Familien anregen, das selten über das Anekdotische hinausgeht“, sagt Gatter und ergänzt: „Und wir wollen deutlich machen, dass Zeitzeugen nicht die alleinige Wahrheit beanspruchen können, sondern dass man ihre Erzählungen mit anderen Quellen abgleichen muss.“

Neben den Schulbesuchen entwickelt der Verein Materialien für Klassen, die über www.zeitenwende-lernportal.de abgerufen werden können. Gatter: „Für Lehrkräfte ist Alltagsgeschichte schwer zu vermitteln, weil geeignete Materialien fehlen. Mit unserem Angebot schließen wir eine Lücke.“

Auch in den Geschichtsbüchern des Klett-Verlages gibt es einen Wandel in der Darstellung der DDR. Rüdiger Fleiter, Geschichtsredakteur am Leipziger Verlagssitz beschreibt dies so: „Mein Eindruck ist, dass sich seit ein paar Jahren in unseren Materialien stärker als früher mehr ostdeutsche Perspektiven wiederfinden.“ Dabei verweist er auf den mit dem Deutschen Filmpreis ausgezeichneten Spielfilm „Gundermann“ von 2018 über den populären ostdeutschen Liedermacher Gerhard Gundermann, der als überzeugter Sozialist zeitweise mit der Stasi zusammenarbeitete und gleichzeitig als scharfer Kritiker an Missständen in der Produktion auftrat – ein Film, der ein differenziertes Bild des Alltags zeigt und inzwischen auch Eingang in die Schulbücher des Verlags gefunden hat.  

Zurück zu den Jugendlichen der Integrierten Gesamtschule aus Halle. Am Ende ihres rund dreistündigen Besuches in Marienborn schreiben sie auf Karten ihre wichtigsten Eindrücke auf. Mehrfach wird die Durchleuchtungskontrolle erwähnt, wo mit Hilfe einer radioaktiven Strahlenquelle in den 80er Jahren Fahrzeuge kontrolliert wurden, um zum Beispiel Flüchtige im Inneren eines Pkw aufzuspüren. „Die DDR war härter als ich dachte“, hat jemand geschrieben. Ein anderer fasst mit einem Wort seine Gefühle zusammen: „Dankbarkeit.“

Autor: Joachim Göres

Kompakt
Marienborn war die größte innerdeutsche Grenzübergangsstelle. Eine Schulklasse aus Halle besucht die heutige Gedenkstätte, um sich über die Grenzkontrollen für Westdeutsche zu informieren – für die meisten DDR-Bürger war dieser Ort tabu. Durch das Transitabkommen von 1972 wurde der Transit nach West-Berlin erleichtert, so dass ausgiebige Personenkontrollen nur bei konkretem Anlass erfolgten. Dafür wurde die technische Kontrolle ausgeweitet, zum Beispiel durch die Durchleuchtung von Fahrzeugen. Viele Schüler sind überrascht, welch großen Aufwand die DDR trieb, um Menschen von der Flucht abzuhalten. Das Projekt „Perspektive hoch 3“ setzt seinen Schwerpunkt dagegen auf die Vermittlung der DDR-Alltagsgeschichte.

Buchtipp:
Die meisten Geschichts-Lehrpläne unterrichten chronologisch. Das Ende des 20. Jahrhunderts mit der Deutschen Einheit wird, je nach Schulform, in Klasse 9 oder 10 unterricht, etwa mit dem Lehrwerk „Zeitreise 3“. Mehr zum Titel: https://www.klett.de/produkt/isbn/978-3-12-451090-7?searchQuery=451090