Klett-Themendienst Nr. 111 (2/2023)

Anfang der 1970er begann der Mathematiklehrer J. Peter Böhmer erstmals Schulbücher für den Ernst Klett Verlag zu schreiben. Dabei hat er an der Entwicklung wegweisender, didaktischer Standards mitgewirkt, die heute noch üblich sind. Das Verfassen von Mathematiklehrwerken ist für ihn eine Herausforderung, der er sich seit nun 50 Jahren stellt.

Im Fach Mathematik lernen Schülerinnen und Schüler heute noch weitgehend dieselben Dinge, wie vor 50 Jahren. Stimmt das?

Nicht ganz. Die Schwerpunkte der mathematischen Inhalte sind weitgehend ähnlich geblieben, sie verschieben sich in den Bundesländern lediglich mal über die Lehrpläne. Aber die Aufgabenstellungen und die Bezüge zum Alltag der Schülerinnen und Schüler haben sich geändert. Einen großen Einfluss darauf hatten etwa der Einsatz elektronischer Rechenhilfen in den frühen 1970er Jahren. So wie es einst Bezüge zu Abakus, Rechenstab oder Logarithmentafel in den Büchern gab so veränderte auch die Einführung des Taschenrechners und der Computerprogramme die Lehrwerke.

Kämen denn Schülerinnen und Schüler heute mit einem Buch aus den 1970er Jahren zurecht?

Mit der Mengenlehre müssen sie sich heute zum Glück heute nicht mehr beschäftigen (lacht). Die Aufgaben könnten sicher gelöst werden. Aber die Bücher würden die Lernenden heute wahrscheinlich überfordern. Frühere Mathebücher enthielten fast nur Sammlungen von Aufgaben mit sehr spärlichen Anleitungen, ohne verständliche Begründungen für Rechenverfahren. Die  Vermittlung von Lernstoff hat sich in Art und Weise erheblich verändert.

Die Reformbewegung der 1970er Jahre hatte damals auch für ein Umdenken im Fach Mathematik gesorgt. Wie haben Sie das erlebt?

Als frisch ausgebildeter Lehrer für die Fächer Mathematik und Sport wurde ich 1972 angesprochen, ein „modernes“ Lehrbuch für die Klassen 5 bis 10 mitzuentwickeln. Modern war aus damaliger Sicht die Schülerzentrierung und ein hoher Alltagsbezug der Übungsaufgaben. Entstanden ist daraus das erfolgreiche Lehrwerk GAMMA, für das ich 20 Jahre lang als Autor mitgewirkt habe. Damit haben wir ein echtes Leitwerk für den modernen Mathematikunterricht geschaffen. Übrigens das erste Schulbuch in Deutschland mit beigelegtem Computerprogramm auf einer Floppy-Diskette.

Was an didaktischen Standards hat sich daraus denn bis heute gehalten?

Die damals entwickelte Grunddidaktik, in neue Themen schrittweise einzuführen und entsprechende Rechenregeln im Sinne einer Progression zu ergänzen, gilt bis heute. Auch haben wir damals bereits die Aufgaben nach Lernniveaus differenziert. Und schließlich hatten wir erkannt, dass das Layout und die Anordnung der Aufgaben eine wichtige Rolle spielen, um die Lernenden besser zu unterstützen. Aus heutiger Sicht ist das alles selbstverständlich, damals war das ein ganz neuer Ansatz.

Eine hohe Schülerzentrierung müsste eigentlich bedeuten, dass sich die Leistungen der Schülerinnen und Schüler vergleichsweise verbessern, oder?

Nicht unbedingt. Mathematische Probleme zu verstehen und zu verarbeiten ist ein komplexer Prozess. Zwar werden die Lernenden stärker als früher darin unterstützt, die einzelnen Lernschritte besser nachzuvollziehen, das heißt aber nicht automatisch, dass sich die Leistungen damit auch verbessern. Wir können nur die Brücken bauen.

Wenn Sie auf die letzten fünf Jahrzehnte zurückblicken, was waren/sind die größten Herausforderungen?

Da denke ich vor allem an die vor rund 25 Jahren erfolgte Ablösung der didaktischen Konzeptionen fachrelevanter Lernziele durch Kompetenzbereiche − eine große Herausforderung vor allem für die älteren Lehrkräfte und die Herausgeber und Autoren.
Im Bereich der Grundschule, ich habe auch Lehrwerke für die Klassen 1 bis 4 mitentwickelt, wurden Erkenntnisse der Lernpsychologie (Enaktiv-Ikonisch-Symbolisch) integriert, der handlungsorientierte Zugang wurde als zwingend notwendig angesehen. Später kam noch der Aspekt der „Individualisierung und Differenzierung“ dazu. Die Sprachförderung ist die jüngste Herausforderung, die in Lehrwerken zu berücksichtigen ist.

Was haben Sie beim Verfassen von Schulmaterialien aus Ihrer eigenen Unterrichterfahrung mitgenommen?

Mathematik muss für die Lernenden von Anfang an spannend sein. Ich habe dazu immer Bezüge zu Experimenten oder historischen Geschichten hergestellt. Auch mit mathematischen Aspekten für leistungsstarke Schülerinnen kann man das Interesse gewinnen. Neben der Motivation muss man   Schülerinnen und Schüler dazu befähigen, das Gelernte auf verschiedene Sachbereiche ihrer Umwelt übertragen zu können. Das ist mitunter nicht ganz einfach. Aus der Perspektive der Lehrkraft sind deshalb Materialien erforderlich, mit dem sich das gut umsetzen lässt und für die nur wenig Vorbereitungszeit zur Unterrichtsplanung benötigt wird. Radikale Neuerungen überfordern schnell und gehen zu Lasten der Grundlagenvermittlung.

Schreiben für ein Millionenpublikum: Über welche Fähigkeiten sollte man verfügen?

Neben mathematischen Grundkenntnissen sind besonders die Fähigkeiten zur didaktisch-methodischen Umsetzung der Inhalte erforderlich. Für mich galt immer der Leitsatz: es muss für die Lernenden leicht verständlich und umsetzbar sein. Als Autor habe ich stets die Rückkoppelung zu anderen Lehrkräften gesucht, beispielsweise über Referate auf Kongressen und Fachveranstaltungen oder über meine Tätigkeit als Ausbildungsleiter für das Referendariat im Fach Mathematik. Zudem sind Unterrichtserfahrungen wichtig, um die Lernprozesse bei den Schülerinnen und Schülern erfassen zu können. Das ist eine wichtige Grundlage für die späteren Lehrwerkskonzepte. Spezielle Erfahrungen konnte ich auch in den Extrembereichen „Dyskalkulie“ und „Leistungsförderung“ sammeln, mit denen ich mich im Rahmen meiner beruflichen Tätigkeit befasste. Besonders das Erkennen von Fehlerstrategien hat mich dazu gebracht, möglichst in den Formulierungen bereits eine Fehlervermeidung zu erreichen.

… und was darf man davon nicht erwarten?

Mit der Übernahme einer Autorentätigkeit sollte man zunächst nicht vorrangig an hohe Gewinne denken. Aber, die Arbeit in einer Autoren-Gruppe bringt sehr viele positive Aspekte mit sich, etwa die Mathematik vollkommen zu erfassen (Fachwissen, Didaktik und Methodik). Meine ersten zehn Jahre in der Autorengruppe von GAMMA waren für meine spätere berufliche Karriere sicher sehr prägend, in Fachkreisen war ich ein akzeptierter Praktiker, dessen Argumente gerne angenommen wurden, das hat mich stolz gemacht.

Welche Motivation treibt Sie an, weiterhin als Autor zu arbeiten?

Mathematik macht vielen Angst. Ich möchte die Mathematik für Schülerinnen und Schüler freundlicher und verständlicher gestalten, dabei müssen Schwierigkeiten im Verständnis und der Anwendung minimiert werden. Dann können sie die gestellten Aufgaben leichter und erfolgreicher lösen und entspannter am Unterricht teilnehmen.

Und zum Schluss, was ist Ihre schönste Erinnerung als Autor und Herausgeber?

Sicherlich die Ehrung für meine 50-jährige Tätigkeit auf dem Verlagsabend durch den Geschäftsführer Tilo Knoche, den ich seit vielen Jahren persönlich kenne. Das hat mich wirklich sehr gefreut!

Vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person
J. Peter Böhmer hat u.a. an folgenden Unterrichtswerken des Ernst Klett Verlages als Autor und/oder Herausgeber mitgewirkt: GAMMA für die Klassen 5 – 10, Mathematik begreifen 1. – 4. Klasse, Arbeitsheft Mathematik für die Klassen 5 – 10 bis heute, Arbeitshefte Mathematik für neue Bundesländer für die Klassen 5 – 10, Mathefix bis heute, Themenhefte Mathematik 1. – 4. Klasse und Arbeitskarten Mathematik für die Klassen 5 – 10.

Buchtipp:
Mit den Arbeitsheften Mathematik für die Klassen 5-10 wird das selbstständige Üben und Vertiefen mathematischer Grundlagen unterstützt. Die Hefte sind leicht verständlich und selbsterklärend strukturiert. Mit Tipps zu den Aufgaben können die Schülerinnen und Schüler selbstbestimmt zuhause üben. Weitere Informationen: https://www.klett.de/lehrwerk/arbeitshefte-mathematik-bundesausgabe-ab-2020/konzeption