Zwischen Fibel, Social Media und Chat GPT: Wie lernen Kinder lesen?

Am Anfang steht eine neue Welt. Das Lesen offenbart Kindern völlig neue Möglichkeiten. Plötzlich haben sie Einblicke in die Welt der Erwachsenen, können selbst Bücher lesen und sich völlig neue Themen eigenständig ohne Hilfe erschließen. Doch wie funktioniert das? Wie lernen Kinder lesen? Wie werden aus Buchstaben und Lauten plötzlich Wörter und eigenständige Texte?


Während im vergangenen Jahrhundert vor allem mit der Fibel das Lesen und Schreiben gelehrt wurde, erfahren Kinder heute an den Grundschulen ganz verschiedene Methoden beim Lesenlernen. Welche ist die richtige? Ist Schreiben nach Gehör effektiver als Schreiben- und Lesenlernen mit der Fibel? Darüber diskutieren Pädagogen, Linguisten und Entwicklungspsychologen seit Jahren.

Leselernmethode mit der Fibel

Die bekannteste Methode ist noch immer die analytisch-synthetische Leselernmethode mit der Fibel. Die Schülerinnen und Schüler lernen dabei über die einzelnen Laute die dazugehörigen Buchstaben kennen. Zum Beispiel erlernen sie das „A“, das „O“ und das „M“. In einem zweiten Schritt fügen sie die Buchstaben zum Wort „Oma“ zusammen. Dieses Prinzip wird mit allen Buchstaben durchexerziert und auf einen immer größeren Wortschatz ausgeweitet. Irgendwann sind die Kinder in der Lage, dieses Prinzip eigenständig auf völlig neue Sätze, die nicht vorher besprochen wurden, anzuwenden.

Allerdings: Diese Methode ist in den vergangenen Jahren immer stärker in Verruf geraten. „Die Texte in der Fibel sind so kurz, dass die Kinder die Buchstaben eher auswendig können, als wirklich zu lesen“, erklärt Daniel Hoffmann, Lehrer an einer Leipziger Grundschule. „In seiner reinen Form wird die Fibel-Methode deswegen heute nur noch ganz selten angewendet.“

Auch Erziehungswissenschaftlerin Anke Langner von der TU Dresden sieht Lesenlernen damit kritisch. „Die Fibel ist kein Motivator“, erklärt sie. „Die Texte sind viel zu kurz. Sie sind ein gutes Mittel, um zum funktionalen Analphabeten zu werden.“ Wichtig sei, dass die Kinder motiviert werden, in ihrem eigenen Tempo bleiben und kein Zwang ausgeübt wird. „Wenn man Schülerinnen und Schüler in das Lesen zwingt, lernen sie nur Wörter auswendig.“

Ein weiterer Kritikpunkt an der Fibel-Methode ist Experten zufolge, dass den Kindern einerseits durch die Wiederholungsübungen beim Buchstabenlesen und -schreiben schnell langweilig wird. Andererseits bestünde die Gefahr, dass Korrekturen sie demotivieren.

"Lesen durch Schreiben" im Schweizer Modell

Eine weitere Methode ist „Lesen durch Schreiben" des Schweizer Reformpädagogen Jürgen Reichen. Statt per Fibel Buchstabe für Buchstabe zu lernen und diese dann zusammenzusetzen, nutzen Schülerinnen und Schüler dafür eine Anlauttabelle. Ein Wort wird in Laute zerlegt; die Kinder suchen auf der Tabelle anhand von Bildern die ihnen passend erscheinenden Buchstaben und setzen das Wort selbst zusammen. Die Idee ist, dass sie dabei ohne Hemmungen möglichst viel schreiben und sich damit Lesekompetenz aktiv und individuell aneignen. Da hier nach Gehör geschrieben wird, entstehen oft Wörter mit einer anderen Schreibweise, die erst später in der dritten Klasse nach Rechtschreibung korrigiert werden. Der Kritikpunkt: Das Umlernen zur richtigen Schreibweise funktioniert oft nicht so schnell und problemlos wie erhofft. Nach verschiedenen Studien, nach denen mit dieser Methode Rechtschreibdefizite bei den Kindern diagnostiziert wurden, rückten viele Schulen davon ab. „In seiner reinen Form wird die Reichen-Methode nur noch selten verwendet“, erklärt Grundschullehrer Hoffmann.

Mischform zwischen Fibel-Methode und „Lesen durch Schreiben“

Laut Hoffmann praktizieren viele Schulen heute eine Mischform aus der Fibel-Methode und des Ansatzes des Reformpädagogen Jürgen Reichen „Lesen durch Schreiben“. Pädagogen nutzten einzelne Elemente, um zum besten Ergebnis zu kommen. „Die meisten Schulen stellen ihren Kindern alle Buchstaben zur Verfügung und arbeiten über das Lautieren“, erklärt Hoffmann. Gleichzeitig werden die Buchstaben einzeln eingeführt, das Schreiben geübt und Rechtschreibregeln eingeführt.“ Wichtig sei, dass sich in den höheren Klassen nicht zu viel falsches Wortmaterial verfestige. „Ab Klasse drei stellen wir unseren Kindern dann langsam Wörterbücher zur Verfügung.“

Tandempartnerschaften zum Lesen

Als zusätzliche Leseförderung werden an einigen Schulen auch Tandempartnerschaften praktiziert. „Es gibt ganz einfache Mittel, um die Lesefähigkeiten von Kindern zu fördern. Sehr gute Erfahrungen machen wir an der Universitätsschule Dresden mit Tandems. Dabei gehen Schülerinnen und Schüler, die gut lesen können, mit Schwächeren eine Partnerschaft ein und lesen sich laut aus Büchern vor“, erklärt Anke Langner, Professorin für Erziehungswissenschaften, die das Projekt wissenschaftlich betreut. „Die Älteren schulen damit ihre Lesefähigkeiten und die Jüngeren werden motiviert, selbst die Buchstaben entziffern zu können.“

Leseförderung durch viel eigenes Lesen

Grundsätzlich gibt es für Langner einen Schlüssel zum Leseglück, aber auch für eine richtige Rechtschreibung: Lesen, lesen, lesen. „Je mehr ich lese, desto stärker verankern sich die Wortbilder in meinem Gedächtnis, desto eher fallen mir Rechtschreibfehler auf“, erklärt Langner. „Wenn ich 'leer' schon hundertmal gelesen habe, fällt mir auf, dass es mit der Schreibweise 'ler' nicht stimmt.“ Deswegen arbeiten viele Lehrkräfte auch mit Grundwortschätzen, „damit die Kinder einen Grundbausatz haben“. „Ohne Lesen kann ich kein Fehlerbewusstsein in der Sprache entwickeln“, resümiert Langner.

Wichtig sei auch lautes Vorlesen. „Alles, was außerhalb von uns ist, muss laut sein, bis es in uns ist. Das sieht man gut bei Kindern, die laut Oma sagen. Darüber sich selbst zu hören, können wir viel leichter den Sinn entnehmen und Dinge verinnerlichen“, erklärt Langner.

Welche Rolle spielen Social Media, Apps und künstliche Intelligenz?

Hilfreich zum Lernen seien auch Lern-Apps weil sie einen spielerischen Ansatz haben, erklärt Grundschullehrer Hoffmann. Allerdings sollten sie nicht inflationär eingesetzt werden, die persönliche Interaktion und das analoge Lesen und Vorlesen habe immer Vorrang. Dennoch sei es wichtig, der Motivation viel Raum zu geben. Wenn Kinder unbedingt gern ihre Zeit vor dem Bildschirm verbringen wollen, könne eine App viel mehr bewirken als unausgesuchte Inhalte. Auch Computerspiele und Social Media sollten als Motivation nicht verteufelt werden. „Die Kinder wollen ja verstehen, was dort passiert – und mitmachen.“

„Technik kann nicht alles ersetzen. Auch für Influencer ist es von Vorteil im Chat und in Social-Media-Kanälen lesen zu können“, erklärt Langner. „Beim Lesen geht es vor allem darum, Denkprozesse anzustoßen. Letztlich muss jede KI bedient werden – dafür müssen sie nachdenken.“

Zum Umgang mit der künstlichen Intelligenz „Chat GPT“ gibt es laut Langner aber noch viele offene Fragen: „Wir müssen überlegen, wie wir in Zukunft im Unterricht die Lesekompetenz abfordern, darauf haben wir als Schule noch keine Antwort“, erklärt sie. Fakt sei, die Lebensrealität des digitalisierten Alltags müsse mit eingebunden sein.

Wie können Eltern unterstützen?

Einem großen Einfluss auf die Lesefähigkeiten der Kinder wird dem Elternhaus und der Anwendung des Lesens im Alltag zugeschrieben. Doch was können Eltern konkret tun, um ihre Kinder zu unterstützen: „Der Schlüssel liegt im ritualisierten täglichen Lesetraining. Zehn Minuten pro Tag können schon ausreichen“, rät Langner. „Wichtig ist, dass Kinder Lesen als ein emotionales warmes Erlebnis empfinden. Wenn alle genervt und gestresst sind, kann man es schon vergessen. Wenn sich Mama und Papa Zeit hingegen Zeit nehmen, wirkt das Wunder.“

„Dieses tägliche Training kann Schule nur begrenzt leisten“, erklärt auch Grundschullehrer Hoffmann. Es gebe sehr viele sehr gute Kinderbücher, welche die verschiedensten Interessen der Kinder bedienen. Damit könnten Eltern perfekt üben und die Kinder gleichzeitig motivieren.

Katrin Tominski, Dresden

zur Person

Katrin Tominski ist freie Journalistin und veröffentlicht vor allem in den Online- und Hörfunkredaktionen des Mitteldeutschen Rundfunks. Nach dem Studium der Kulturwissenschaften, Journalistik und der Politikwissenschaften in Leipzig, volontierte sie bei der Leipziger Volkszeitung und wechselte schließlich als Redakteurin für die Dresdner Neuesten Nachrichten nach Dresden. Dort bearbeitet sie heute Themen mit Fokus auf Bildung, Migration, Wissenschaft, Medizin und Digitalisierung sowie Ostdeutschland.