Studie: Lesefähigkeit von Viertklässlern alarmierend gesunken

Die Pandemie hat Viertklässler in ihrer Lesekompetenz erheblich zurückgeworfen. Wie Forschende des Instituts für Schulentwicklungsforschung (IFS) der TU Dortmund in einer repräsentativen Studie feststellten, verloren Grundschüler im Durchschnitt etwa ein halbes Lernjahr. Das ist „alarmierend“, warnen die Wissenschaftler. Die Lesekompetenz sei eine Schlüsselkompetenz für erfolgreiche Bildungsbiografien und enorm wichtig beim Übergang von der vierten zur fünften Klasse.


Viertklässler in Deutschland haben durch die Pandemie erheblich geringere Lesekompetenzen entwickeln können. Das ist das Ergebnis der Schulpanelstudie des Instituts für Schulentwicklungsforschung (IFS) an der TU Dortmund. Demnach ist die Lesefähigkeit der Kinder im Jahr 2021 mit 980 Punkten im Mittel deutlich geringer als noch 2016 mit 1.000 Punkten. „Drückt man es in Lernjahren aus, fehlt den Kindern im Durchschnitt etwa ein halbes Lernjahr“, erläuterte Dr. Ulrich Ludewig, Co-Leiter der Studie. Alle Schülerinnen und Schüler seien betroffen. Zwar gebe es bei leistungsstarken Viertklässlern mit lernförderndem Umfeld einen geringeren Verlust. „Der signifikante Rückgang der mittleren Lesekompetenz bleibt jedoch“, erklärte Ludewig. 

Die Ergebnisse der IFS-Schulpanelstudie zeigen eine geringere Lesekompetenz sowohl bei leseschwachen Schülerinnen und Schülern, aber auch bei einem geringeren Anteil sehr guter Leserinnen und Leser in der vierten Klasse“, erklärt Erziehungswissenschaftlerin PD Dr. Ramona Lorenz vom IFS der TU Dortmund. „Diese Kompetenzunterschiede lassen sich mit den vorliegenden Daten nicht kausal und nicht alleinig auf die Pandemie zurückführen, doch liegt es nahe, dass ein großer Teil dieser Kompetenzeinbußen mit pandemiebedingten Lehr-Lern-Situationen zu erklären ist.“

Lesetests mit über 4.000 Kindern

Für die repräsentative Schulpanelstudie haben die Forschenden im Jahr 2016 und 2021 mit über 4.000 Kinder an 111 ausgewählten Grundschulen in Deutschland den internationalen und standardisierten Lesetest IGLU 2016 durchgeführt und die Ergebnisse verglichen. Dazu gehörten unter anderem zwei Lesetexte und Verständnisfragen im Multiple-Choice-Format sowie offene Fragen. Die Covid-19-Pandemie brachte große Herausforderungen für die Gesellschaft und insbesondere das Bildungssystem mit sich“, schreiben die Forscher. Erstmals seit Jahrzehnten sei der Schulbetrieb für längere Zeiten unterbrochen und später durch den Wechsel von Distanz- und Präsenzunterricht abgelöst worden. Welche Auswirkungen dies auf den Erwerb der Lesekompetenz gehabt habe, sei die zentrale Frage gewesen.

Alle Schülergruppen sind betroffen

Den Forschenden zufolge betreffen die sinkenden sogenannten mittleren Lesekompetenzen durchweg alle Schülergruppen. Zwar seien Mädchen beim Lesen noch immer durchschnittlich stärker als die Jungen, doch das durchschnittliche Leseniveau sei in beiden Gruppen etwa 20 Punkte gesunken.

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Ähnlich sieht es laut der Studie mit dem Fokus auf den soziokulturellen Hintergrund aus. Zwar können Kinder aus Familien mit mehr als 100 Büchern zu Hause im Schnitt auch in der Pandemie 2021 weiter besser lesen als solche mit weniger Büchern. Trotzdem ist auch hier die Lesekompetenz gesunken – bei Jungen um 20 und bei Mädchen um 18 Punkte. Die Anzahl der Bücher zu Hause gilt als guter Indikator für den soziokulturellen Hintergrund von Schülerinnen und Schülern und damit auch für elterliche Unterstützungsmöglichkeiten beim Lernen.

Kinder ohne Internet und Schreibtisch lesen schlechter

Weniger gut lesen können auch Kinder sowohl mit schlechten als auch mit guten häuslichen Rahmenbedingungen zum Lernen [Satz ist mit dieser Formulierung unverständlich]. Allerdings: Ohne eigenen Schreibtisch und Internetzugang sank die Lesekompetenz im Schnitt mit 27 Punkten viel stärker als bei Kindern mit guten Rahmenbedingungen (16 Punkte).

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Kinder mit Migrationshintergrund noch stärker betroffen

Wesentlich schlechter lesen den Forschenden zufolge Grundschulkinder mit Migrationshintergrund. Die Lesekompetenz von Kindern mit Migrationshintergrund hat im Durchschnitt tendenziell stärker unter der Pandemie gelitten“, schreiben die Forschenden. So haben diese genau 30 Punkte verloren – das entspricht etwa einem dreiviertel Schuljahr.

Damit hat sich außerdem der ohnehin schon große Abstand zu in Deutschland geborenen Kindern weiter vergrößert. Es zeigte sich eine deutliche Vergrößerung des Unterschieds der mittleren Leseleistungen“, schreiben die Forschenden. Lagen im Ausland geborene Viertklässler im Jahr 2016 noch 46 Punkte hinter Kindern mit Deutschland als Geburtsland, sind es 2021 insgesamt 63 Punkte. Im Ausland geborene Grundschüler aus der vierten Klasse hinken somit nach nur einem Jahr Pandemie etwa um eineinhalb Jahre hinterher.

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Alarmierende Ergebnisse

Die aktuelle Schülergeneration in Deutschland zeigt generell eine wesentlich geringere Lesekompetenz als noch vor fünf Jahren – das ist alarmierend“, erklärte die Leiterin der Studie Nele McElvany. „Da Lesen eine zentrale Kompetenz darstellt, hat dieses Ergebnis auch Auswirkungen auf alle anderen Schulfächer“, betont Nele McElvany. Sie beeinflusse neben anderen Faktoren auch den Lernerfolg an den weiterführenden Schulen. Zudem sei Lesekompetenz entscheidend für eine erfolgreiche Bildungs- und Erwerbsbiografie und sichere gesellschaftliche Teilhabe.

Umfassende Förderangebote nötig

Der Studie zufolge können Viertklässler nicht nur grundsätzlich schlechter lesen, bestehende Leistungsunterschiede seien noch verstärkt worden. Die Ergebnisse zeigen, dass eine umfassende sowie zielgruppenspezifische Unterstützung der Lesekompetenz durch Fördermaßnahmen sowohl in der Grundschule als auch in den weiterführenden Schulen dringend notwendig ist“, schreiben die Forschenden. „Die hier untersuchten Kinder besuchen aktuell die fünfte Klassenstufe – neben den Grundschulen müssen für die Leseförderung also auch die weiterführenden Schulen systematisch mitgedacht werden“, sagt Nele McElvany. Mit Blick auf mögliche zukünftige Krisen gilt es bei bildungspolitischen und pädagogischen Entscheidungen Aspekte wie das selbstregulierte Lernen in eher distanzorientierten Lehr-Lern-Kontexten sowie die Arbeit mit digitalen Medien als Schlüsselstellen mitzudenken.

Leseförderprogramme nutzen, die evaluiert sind

Erziehungswissenschaftlerin Lorenz erklärt: Eine Förderung sollte differenziert erfolgen und die Kompetenzen der Kinder auf den unterschiedlichen Niveaus fördern. Dabei ist es für Schulen empfehlenswert, Leseförderprogramme heranzuziehen, die evaluiert sind und deren Wirksamkeit bereits wissenschaftlich untersucht wurde.“

Das Dortmunder IFS leitet auch die alle fünf Jahre stattfindende, international vergleichende Haupterhebung IGLU – die nächste Studie ist für 2026 angesetzt.

Zur Studie: 
Die IFS-Schulpanel-Analysen basieren auf den Antworten von 2.208 Viertklässlern und Viertklässlerinnen im Jahr 2016 sowie 2.082 Schülerinnen und Schülern im Jahr 2021. Die standardisierten Lesetests Iglu 2016" wurden im Jahr 2016 und 2021 an 111 ausgesuchten Grundschulen in Deutschland durchgeführt. Damit war es möglich, die Ergebnisse vor der Pandemie sowie nach mehr als einem Jahr der Beschulung unter Pandemiebedingungen zu vergleichen.

Studie: “COVID-19 Pandemic and Student Reading Achievement – Findings from a School Panel Study”

Katrin Tominski, Dresden

zur Person

Katrin Tominski ist freie Journalistin und veröffentlicht vor allem in den Online- und Hörfunkredaktionen des Mitteldeutschen Rundfunks. Nach dem Studium der Kulturwissenschaften, Journalistik und der Politikwissenschaften in Leipzig, volontierte sie bei der Leipziger Volkszeitung und wechselte schließlich als Redakteurin für die Dresdner Neuesten Nachrichten nach Dresden. Dort bearbeitet sie heute Themen mit Fokus auf Bildung, Migration, Wissenschaft, Medizin und Digitalisierung sowie Ostdeutschland.