Berufsorientierung

Wenn Praktika reihenweise ausfallen und Schnuppertage abgesagt werden, fällt es Jugendlichen besonders schwer, sich für einen Ausbildungsberuf zu entscheiden. Die Schulschließungen haben zudem bei vielen dazu geführt, dass das Gefühl für Struktur und Lernrhythmus verloren gegangen ist.

Max aus der Nähe von Aachen verließ nach der 10. Klasse die Gesamtschule mit großer Vorfreude, nachdem er in einem Wildpark die Chance auf einen Ausbildungsplatz als Tierpfleger in Aussicht gestellt bekommen hatte. Sein absoluter Traumberuf! Vorher waren zwei Praktika – eines im Rahmen der üblichen Schulpraktika und ein freiwilliges in den Ferien – aufgrund der Corona-Pandemie kurzfristig abgesagt worden. Ein Teufelskreis für Max, denn sein Lieblingsausbildungsort, ein großer städtischer Zoo, nimmt nur Auszubildende auf, die zuvor ein mindestens dreiwöchiges Praktikum absolviert haben.

Frust statt Freude

Für seine Ausbildung im Wildpark musste Max von Zuhause ausziehen und in einem Landkreis knapp 100 km entfernt wohnen. Ein halbes Jahr später zog der 16jährige wieder bei Eltern und Geschwister ein – äußerst frustriert. Was war passiert? Was Max durch seine Internetrecherchen zwar ungefähr wusste, aber vorher nicht erleben konnte: Der direkte Kontakt zu Tieren fiel im Wildpark weitaus geringer aus, als er angenommen hatte. Der Jugendliche hatte vor allem die Sauberkeit der Gehege und die Fütterungen sicherzustellen. Das hatte auch sein Berufsberater nicht richtig eingeschätzt. Hinzu kam, dass der ländliche gelegene Wildpark nicht gut an den Öffentlichen Nahverkehr angeschlossen war und gerade am Ende des Arbeitstages kein Bus fuhr, damit der 16jährige Feierabend machen konnte. So verlängerte sich der Arbeitstag von Max täglich um zwei weitere Stunden. Das dem Jugendlichen wenig entgegenkommende Betriebsklima gab Max dann den Rest.

Realitätscheck Praktikum ist wichtig

Es ist nicht selten, dass Jugendliche ihren Traumberuf idealisieren. Der Realitätscheck im Praktikum hilft dann, sich selbst zu vergewissern, ob die Routinen des Alltags und die beruflichen Vorstellungen zueinander finden. Die in der Pandemie zugenommene Unsicherheit der Jugendlichen im Hinblick auf ihre berufliche Orientierung ist an einer aktuellen Studie abzulesen. In „Jugend in Zeiten von Corona. Ergebnisse der Jugendbefragung in Rheinland-Pfalz 2021“ äußerten mehr als die Hälfte der Lernenden (56,8 %) Befürchtungen hinsichtlich der eigenen Bildungs- und Berufskarriere. Dies schlägt sich auch in bereits sichtbar werdenden Auswirkungen von Corona auf die schulische und berufliche Zukunft nieder.

Am häufigsten wird davon berichtet, dass ein geplantes Praktikum nicht angetreten werden konnte (34,5 %). Knapp jeder zehnte gab an, einen Nebenjob verloren zu haben, weitere 8,8 % hatten Schwierigkeiten, eine geeignete Arbeits-/Ausbildungsstelle zu finden. Jeweils ca. 4 % der Lernenden konnten einen Schulabschluss nicht erreichen oder mussten ein Schuljahr wiederholen. Das wird in NRW nicht viel anders sein. Gerade Praktika im gesundheitlichen Bereich sind der Pandemie zum Opfer gefallen. Handwerksbetriebe wiederum, die in Zeiten des Fachkräftemangels dringend auf Azubis angewiesen sind, taten alles dafür, dass auch Praktika unter Coronabedingungen möglich gemacht wurden.

Gute Erfahrungen mit Ausbildungsbotschaftern

Das beobachtete z. B. die Berufswahlkoordinatorin Elke Cornetz an der Realschule Patternhof in Eschweiler bei Aachen. Die Lehrerin, die für das Kompetenzteam Heinsberg moderiert und Lehrkräfte zu Koordinator:innen für Berufliche Orientierung ausbildet, hat an ihrer Schule gute Erfahrungen mit Ausbildungsbotschafterinnen und Ausbildungsbotschaftern der IHK gemacht. Das sind Auszubildende aus unterschiedlichen Berufen, die Lernenden Impulse für ihre berufliche Orientierung geben. Sie erzählen vor Schulklassen von ihren eigenen Gedanken bei der Berufswahl und geben Einblicke in ihren Arbeitsalltag, in die Inhalte ihrer Ausbildung und informieren über Karrierechancen. „Auf Augenhöhe, das kommt gut an“, erläutert die Lehrerin und fügt hinzu: „Nichts ersetzt den persönlichen Kontakt und das Miterleben eines Arbeitstages vor Ort, aber die jungen Leute haben während der Pandemie ihre Berufe per Film vorgestellt. Das Video eines jungen Mädchens, das sich zur Dachdeckerin ausbilden lässt, zeigte sie hoch oben auf dem Dach eines Hauses bei der Einweisung durch ihren Ausbilder. Das war schon ein guter Film, der den Kindern und Jugendlichen etwas gebracht hat“, berichtet Elke Cornetz.

Die engagierte Lehrerin bringt aus ihrer zehnjährigen Tätigkeit in der Industrie viel Erfahrung und vor allem Kontakte zu Firmen mit. Vor der Pandemie organisierte sie jedes Jahr eine schulinterne Berufsmesse für ihre Klasse und ermöglichte es – zusammen mit den Kooperationspartnern – dass sich 20 bis 25 Firmen und berufsbildende Schulen den Eltern und Lernenden präsentieren konnten. Wichtige Kontakte konnten dort geknüpft werden. Und jetzt? Welche andere Möglichkeit der Orientierung gibt in Zeiten der Pandemie?

NRW: Ferienkurse und Online-Tools zur Orientierung

Im Rahmen der Landesinitiative „Kein Abschluss ohne Anschluss (KAoA) – Übergang Schule/Beruf in NRW" offeriert das Land NRW allen Lernenden der 9. und 10. Klassen ein freiwilliges und kostenloses Angebot zur Beruflichen Orientierung in Form eines Ferienkurses. Diese kommunal organisierte Möglichkeit, Kurse zur „Beruflichen Orientierung extra" bei einem Bildungsträger zu besuchen, bietet z. B. die Stadt Mönchengladbach. Dort können Kinder und Jugendliche praktische Erfahrungen in verschiedenen Berufsfeldern sammeln. Noch finden sie statt. Angeboten werden u. a. Ferienkurse in Metall, Technik, Garten- und Landschaftsbau oder Technisches Produktdesign. Ansprechpartner für diese und andere Projekte zum Übergang Schule/Beruf sind die landesweiten Bildungsbüros, die wiederum Teil der Regionalen Bildungsnetzwerke sind.

Mit dem neu geschaffenen BO-Tool NRW stellt das Schulministerium den Schulen darüber hinaus ein digitales Online-Instrumentarium zur Beruflichen Orientierung (BO) zur Verfügung, das Materialien, Hilfen, Informationen und Angebote bereithält. Auch der Berufswahlpass steht online bereit. Aber etwas anderes treibt Elke Cornetz viel mehr um: „In den vielen Wochen Zuhause während der Lockdowns haben leider viel zu viele junge Menschen Struktur, Disziplin und Respekt verloren. Es ist schwer, sie wieder einzufangen und sie an den Rhythmus der Schule und an Hausaufgaben zu gewöhnen. Dadurch wird die Eingliederung in einen Ausbildungsbetrieb noch einmal besonders erschwert“, erkennt die erfahrene Berufswahlkoordinatorin, die alle Schulabgänger ihrer Schule ins Berufsleben begleitet.

Für Max gingen die Irrungen und Wirrungen dank geduldiger Eltern und entgegenkommender Schulen vergleichsweise gut aus. Eine Gesamtschule bot ihm angesichts der guten Noten auf dem Abschlusszeugnis an, ohne eine Wiederholung des Schuljahres in die Oberstufe einsteigen zu können. Doch nach vielen Gesprächen mit seinen Eltern und gemeinsamen Beratungsgesprächen an verschiedenen Berufskollegs entschied er sich, das Fachabitur an einem Berufskolleg mit dem Schwerpunkt Agrarwirtschaft anzusteuern. Ob er danach ein Studium an einer Fachhochschule anstrebt oder noch einmal eine Ausbildung in Erwägung zieht, weiß er zurzeit aber noch nicht.

Autorin: Inge Michels

Medientipp

„Mein Platz im Leben“ so heißt das Auftaktkapitel im neuen Lehrwerk starke Seiten Wirtschaft/Politik für NRW und zeigt damit, worauf es den Autor:innen besonders ankommt: Es geht um die Selbstreflektion der Lernenden, damit sie sich frühzeitig mit den Themen der Beruflichen Orientierung beschäftigen können. Aber es geht auch um die Vorstellung von Berufsfeldern, nachhaltiges Wirtschaften oder die Gründung eines Start-ups.

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