Rassismus

„Den Alltagsrassismus an Schulen wahrnehmen“

Karim Fereidooni (36) hat sechs Jahre als Lehrer für Deutsch, Politik/Wirtschaft und Sozialwissenschaften am St. Ursula Gymnasium Dorsten unterrichtet. Seit 2016 ist er an der Ruhr-Universität Bochum Juniorprofessor für die Didaktik der sozialwissenschaftlichen Bildung. Seine Forschungsschwerpunkte sind Rassismuskritik in pädagogischen Institutionen, Schulforschung und Politische Bildung in der Migrationsgesellschaft sowie diversitätssensible Lehrkräfteausbildung.

In Deutschland gibt es mehr als 3300 Schulen, die den Titel „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“ tragen. Mindestens 70 Prozent aller Menschen, die dort lernen und arbeiten, haben sich mit ihrer Unterschrift verpflichtet, sich gegen jede Form von Diskriminierung an ihrer Schule aktiv einzusetzen, bei Konflikten einzugreifen und Projekttage zum Thema durchzuführen. Wie beurteilen Sie dieses Engagement? An einigen Schulen funktioniert die Beschäftigung mit diesem Thema gut. An anderen läuft seit zehn Jahren nichts mehr. Inwieweit Rassismus thematisiert wird, hängt oft von wenigen engagierten Lehrkräften ab, und wenn sie in Rente gehen oder an eine andere Schule wechseln, fehlen nicht selten Nachfolger. Der Titel „Schule ohne Rassismus“ wird leider zeitlich unbegrenzt vergeben. Besser wäre es nach einer gewissen Zeit zu überprüfen, wie die Aktivitäten an der jeweiligen Schule aussehen. Eine Gefahr besteht darin zu sagen, fast alle haben unterschrieben, sich gegen Rassismus einzusetzen, dann ist ja alles wunderbar.

Grundsätzlich muss man sagen, dass es keine Schule ohne Rassismus gibt. Das Wichtigste ist, nicht zu leugnen, dass Rassismus existiert und Rassismus zum Unterrichtsthema zu machen. Eine rassismusfreie Schule ist eine Utopie, das Ziel ist eine rassismussensible Schule. Oft nehmen Lehrerinnen und Lehrer Rassismus im Alltag aber gar nicht wahr. Sie müssen sich zunächst fragen, welche Dinge in ihrem Unterricht passieren, die mit Rassismus zu tun haben. Bislang spielt Rassismuskritik in der Lehreraus- und Fortbildung allerdings kaum eine Rolle.

Wie sollte die inhaltliche Beschäftigung mit dem Thema Rassismus Ihrer Meinung nach aussehen?

In Schulen wird Rassismus oft mit der Zeit des Nationalsozialismus in Verbindung gebracht, aber nicht mit der Gegenwart. Dahinter steht der Glaube, dass der Rassismus seit 1945 in der Bundesrepublik überwunden ist, und wenn überhaupt, dann wird er heute von nicht wenigen Lehrkräften nur noch mit Ostdeutschland in Verbindung gebracht. Wichtig erscheint mir, den Alltagsrassismus anzusprechen. Ich bilde angehende Politiklehrkräfte aus und frage sie nach ihren Erfahrungen. Da geht es darum, wer vor der Diskothek wegen seines Aussehens nicht durch die Einlasskontrolle kommt, wer wegen der Hautfarbe kontrolliert wird, wer bei der Wohnungsbesichtigung schlechtere Chancen hat. Die meisten meiner Studierenden sind weiße Deutsche, die diese Erfahrungen nicht gemacht haben und sich solche Situationen, über die ihre Kommilitonen mit einer anderen Familiengeschichte viel berichten können, oft auch gar nicht vorstellen können.

Sie haben für Ihre Promotion 159 Interviews mit (angehenden) Lehrkräften mit Migrationshintergrund zum Thema Rassismuserfahrungen in der Schule geführt. Was sind die wichtigsten Erkenntnisse?

Die meiste Diskriminierung, die sie erlebt haben, geht nicht von Lernenden oder Eltern aus, denn die sind ja an guten Noten interessiert. Sie werden vielmehr von Kollegen und Vorgesetzten benachteiligt. Als gleichwertig werden sie oft nur anerkannt, wenn sie bessere Leistungen als ihre Kollegen erbringen. Wer Deutsch mit einem Akzent spricht, wird häufiger diskriminiert; es kommt aber auch hierbei auf den Akzent an, denn Akzent ist nicht gleich Akzent. Auf Grund ihres Aussehens werden manche Lehrkräfte als Muslime wahrgenommen und abgewertet, selbst wenn sie nicht religiös sind. Lehrkräfte, die mit Russisch, Arabisch, Türkisch oder Kurdisch aufgewachsen sind, werden negativer beurteilt als diejenigen, deren Muttersprache Englisch, Französisch oder Spanisch ist. Ob eine Lehrkraft sich rassistisch äußert oder nicht, hat nichts mit dem Alter zu tun, sondern hängt davon ab, ob jemand realisiert hat, dass wir in einer Migrationsgesellschaft leben.

Welche Rolle spielen die in den Schulen eingesetzten Materialien?

In den aktuellen Schulbüchern kann man einen Wandel beobachten, es wird deutlich, dass es sich in Deutschland um eine Migrationsgesellschaft handelt. Aber Tatsache ist, dass noch alte Schulbücher im Einsatz sind, die ein anderes Bild verbreiten. Hinzukommt, dass auch in neuen Lehrwerken Migration oft nur als Problem behandelt wird. Auch sollte nicht nur von Paula und Hanna die Rede sein, sondern es könnte häufiger von Ayse gesprochen werden. Zudem sollten die Kolonialgeschichte und der Alltagsrassismus thematisiert werden.

Wie sehen Sie generell die Verbreitung von rassistischem Gedankengut in Deutschland?

Durch den Einfluss der AfD werden heute Dinge sagbar, die lange als tabu galten. Gleichzeitig gibt es eine zunehmende Auseinandersetzung mit dem Rassismus in der Gesellschaft, nicht zuletzt durch engagierte Menschen, die sich seit 2015 für Geflüchtete einsetzen.

Interview: Joachim Göres

Medientipp

Bildungsmedien müssen die Vielfalt der Gesellschaft abbilden und gerade im Fach Französisch, bei dem es auch um die Welt der Frankophonie geht, sind Diversitätsthemen selbstverständlicher Teil des Unterrichts. Die Neuausgabe Tous ensemble 1 bietet dazu entsprechende Unterrichtsangebote, wie z.B. mit dem Kapitel La diversité en France.

Tous ensemble 1, mittlere Schulformen NRW, ISBN: 978-3-12-624301-8, erscheint 5/22

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