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Bildung für nachhaltige Entwicklung

„Momentan geht es ums Überleben“

Nach der Flutkatastrophe in Rheinland-Pfalz und NRW tun betroffene Schulen alles, um wieder zu funktionieren. Vor dem Hintergrund des unübersehbaren Klimawandels wird Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) in Zukunft einen größeren Stellenwert an Schulen bekommen. Das ist eine Chance für außerschulische Träger, die sich für BNE engagieren. Am Tag der Klimakatastrophe wälzten sich die entfesselten Fluten der Ahr zuerst durch die Flure der Erich-Kästner-Realschule plus in Bad Neuenahr-Ahrweiler. Kurze Zeit später stand die Barbarossaschule Sinzig komplett unter Wasser, die neun Kilometer flussabwärts liegt.

Drei Monate nach dem 14. Juli 2021 hallt in der Barbarossaschule Sinzig ein Presslufthammer. Während die Schule saniert wird, geht der Unterricht weiter. „Die gestresstenLernenden brauchen in der Ausnahmesituation feste Strukturen und gewohnte Abläufe“, sagt Uta Erlekampf, Konrektorin der Barbarossaschule in Sinzig. Als die Realschule plus nach den Sommerferien gestartet ist, hatte sie auf einmal keine Schulbücherei mehr, keinen Werk- und Textilraum, keine Lehrküche, keinen Biologiesaal, keinen Musiksaal, kein Sekretariat, kein Lehrerzimmer und noch nicht einmal eine Verwaltung. Die schulische Infrastruktur war zerstört.

„Im Prinzip haben wir bei null angefangen“, sagt Uta Erlekampf. In dieser Ausnahmesituation sind existenzielle Kompetenzen gefordert: „Akzeptanz der Situation, Improvisation, Organisationstalent und Flexibilität“. In Rheinland-Pfalz sind 14 Schulen besonders schwer betroffen, an denen rund 7.000 Kinder und Jugendliche unterrichtet werden.

„Momentan geht es ums Überleben“, so Doris Stutz, Leiterin der Erich-Kästner-Realschule plus in Bad Neuenahr-Ahrweiler zur aktuellen Situation. Viele Lernende hätten ihr gesamtes Hab und Gut verloren. Einige seien dabei, in neue Unterkünfte umzuziehen. Bei anderen würden die Häuser saniert, um sie wieder bewohnbar zu machen. „Der Herbst steht vor der Tür und damit beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit, weil mit der Kälte und der Feuchtigkeit auch der Schimmel Einzug hält“, beschreibt Schulleiterin Stutz die Tragweite der Flutkatastrophe.

Bei null angefangen

Wird Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) vor dem Hintergrund der Flutkatastrophe in Zukunft einen größeren Stellenwert einnehmen? „Das werden wir in Zukunft mit Sicherheit mehr forcieren“, sagt Erlenkampf, Leiterin der Barbarossaschule Sinzig. Sie wolle das Thema an konkreten Beispielen vor Ort festmachen, und sich dabei nicht nur auf die Beseitigung der Flutfolgen konzentrieren, sondern auch vermitteln, wie man mit der Situation in Zukunft besser leben kann. „Jetzt sind wir noch zu sehr in der Situation verhaftet, um ums mit der Weiterentwicklung des Schulcurriculums zu beschäftigen“, so Erlenkampf.

Im ersten Corona-Jahr 2020 hat das Land Rheinland-Pfalz einen wichtigen Akzent gesetzt, was die rechtlichen Leitplanken zur Förderung von BNE angeht: Im Rahmen der Novellierung des Schulgesetzes wurde in § 1 die zentrale Verpflichtung für schulische Bildung eingefügt, das „Verantwortungsbewusstsein für Natur, Umwelt und die globalen Nachhaltigkeitsziele zu fördern“. „Rheinland-Pfalz gehört zu den Trendsettern unter den Bundesländern“, meint der Pressesprecher des Ministeriums für Bildung in Rheinland-Pfalz, Ulrich Gerecke.

Im Jahr 2020 gab es laut dem Ministerium für Bildung in Rheinland-Pfalz mehr als 180 Schulen, die Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) zum profilgebenden Schwerpunkt gemacht haben. „Wir wollen die Zahl, der im Bereich Nachhaltigkeit zertifizierten Schulen bis 2030 auf 350, mindestens jedoch auf 300 steigern“, so der Pressesprecher.

BNE wird fächerübergreifend unterrichtet

Die Themen Nachhaltigkeit, Umwelt- und Klimaschutz sind feste Bestandteile der rheinland-pfälzischen Lehrpläne – und dies über alle Jahrgangsstufen und Schularten hinweg. In den weiterführenden Schulen wird BNE insbesondere in natur-, gesellschaftswissenschaftlichen sowie in technischen Fächern unterrichtet. Konkret wird BNE in den Wahlpflichtfächern Arbeitslehre, Ökologie, Physik und Technik fächerübergreifend thematisiert. Aber auch im Fach Religion und im Ethikunterricht werden Fragen der Verantwortung der Menschen mit Blick auf den Klimawandel aufgegriffen.

Wichtige Motoren für BNE sind Netzwerke zwischen Schulen und außerschulischen Bildungseinrichtungen. In Rheinland-Pfalz existieren – zum Teil seit mehr als 20 Jahren – verschiedene schulische Netzwerke wie beispielsweise die BNE-Schulen, Fair Trade Schools, Unesco-Projektschulen, Naturpark- und Nationalparkschulen als Ergebnis der Zusammenarbeit zwischen Landesschülervertretung und Ministerium für Bildung in Rheinland-Pfalz. Auch im Nachbarland Nordrhein-Westfalen gibt es ein vitales Netzwerk in Sachen BNE.

„Wir wollen raus!“

Nur 43 km Luftlinie von Bad Neuenahr-Ahrweiler entfernt liegt die Gymnicher Mühle an der Erft vor den Toren Kölns. Das Naturparkzentrum Gymnicher Mühle ist ein BNE-Regionalzentrum in Nordrhein-Westfalen. Es bietet als außerschulischer Lernort über 30 pädagogische Programme, Seminare und Fortbildungen zum Schwerpunkt Wasser und Kulturlandschaft an. Zunehmend verlegen auch Schulen ihr Klassenzimmer in die Gymnicher Mühle. „Nach Corona und der Flutkatastrophe lautet der Wunsch: Wir wollen raus!“, sagt Daniel Mazander, pädagogischer Leiter des Naturparkzentrums Gymnicher Mühle. Lernende wünschten sich mehr praktische Erfahrungen an außerschulischen Lernorten.

„Wir waren selber von der Flut betroffen“, so Mazander. Ihm bot sich ein „Bild der Zerstörung“. Insbesondere der Wasserpark, bisher ein Publikumsmagnet in den Sommerferien, sei komplett unter Wasser gewesen. „Eine Woche nach der Flutkatastrophe sind wir in eine Art Notbetrieb gegangen“, sagt Daniel Mazander. Die Pädagogen der Gymnicher Mühle hätten eine Notbetreuung für Kinder und Jugendliche organisiert, die von der Flut betroffen waren.

Das Sicherheitsgefühl ist erschüttert

In den betroffenen Regionen gebe es einen großen Redebedarf, das hat Gisela Lamkowsky, Fachgebietsleiterin der BNE-Agentur NRW festgestellt. Früher hätten ein oder zwei erwachsene Begleitpersonen bei außerschulischen Veranstaltungen mit Schulklassen ausgereicht. Heute müssten das mehr Personen sein, damit der Bedarf nach Austausch befriedigt werden könne, da es immer auch möglich sei, dass Ängste aufträten. Genauso wie in Rheinland-Pfalz gibt es Lernende, die in der Flutnacht viel verloren haben. „Der Klimawandel ist greifbarer und erlebbarer geworden, so Lamkowsky. Lernende merkten, dass sich Starkwetterereignisse sich nicht nur irgendwo in der weiten Welt abspielten, sondern direkt vor Ort. Das Sicherheitsbewusstsein, dass unkontrollierbare Starkwetterereignisse in Deutschland nicht passieren können, es besteht nicht mehr so wie früher“, bringt es Lamkowsky auf den Punkt.

Vor dem Hintergrund des greifbaren Klimawandels gibt es immer mehr Schulen, die mit außerschulischen Partnern in Sachen Bildung für nachhaltige Entwicklung kooperieren wollen. Gab es 2016 noch acht BNE-Regionalzentren, so sind es laut Lamkowsky heute 25, die 1470 Veranstaltungen etwa zum Klimawandel organisieren. „Ich nehme eine große Betroffenheit wahr und die Bereitschaft, etwas zu tun. Die Teilnehmendenzahlen wachsen“, so Lamkowsky.

So bringt das Bewusstsein für die Verletzlichkeit der zivilisatorischen und natürlichen Lebensgrundlagen das Engagement von Jugendlichen für Umwelt und Natur spürbar voran.

Autor: Arnd Zickgraf

Medientipp

Die Bildung für nachhaltige Entwicklung ist ein zentrales Thema der Geographie und auch durchgängiges Lernprinzip in der neuen differenzierenden Ausgabe für die mittleren Schulformen in NRW. In extra ausgewiesenen Kapiteln, Erklärfilmen und Aufgaben werden zentrale Fragestellungen der Nachhaltigkeit wie etwa zum Wattenmeer oder zur Landwirtschaft lösungs- und handlungsorientiert thematisiert.

Terra Erdkunde 2, Klasse 7/8, ISBN: 978-3-12-105302-5

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