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„Das Hund? Die Hund? Der Hund!“

(sl) Immer mehr Kinder kommen an die Schulen, ohne ein Wort Deutsch zu sprechen. Meist werden sie in speziellen Klassen unterrichtet, damit sie innerhalb von einem Jahr die Sprache so lernen, dass sie danach in eine reguläre Klasse wechseln können.

„Ich nicht mach kaputt“, sagt Bence zu Diaa Alhk. „Du weißt doch, wie man das richtig sagt. Überleg noch mal“, fordert Gerda Tramm den sechsjährigen Ungarn auf, der mit seinem syrischen Klassenkameraden mit Autos spielt. Tramm ist seit 31 Jahren Grundschullehrerin an der Hehlentorschule im niedersächsischen Celle – sie kennt sich mit Kindern aus, die ohne ein Wort Deutsch zu ihr in die Klasse kommen. Seit 2010 gibt es eine spezielle Sprachlernklasse nur für gerade zugezogene ausländische Mädchen und Jungen an ihrer Schule. Derzeit unterrichtet Tramm 15 Sechs- bis Zehnjährige aus drei Kontinenten.

An diesem Freitag übt eine andere Lehrerin mit fünf der älteren Kinder erst Deutsch und dann Mathe, während die jüngeren mit Frau Tramm in einem Stuhlkreis sitzen. Jedes Kind hat mehrere Bildkarten in der Hand. Alexandria legt die erste Karte auf den Boden. „Vase“, sagt sie. „Wer hat die passende Karte dazu?“, fragt Tramm und blickt zu Jackson. Der schaut sie unsicher an, zieht eine Karte und legt sie neben die Vase. „Genau, das ist eine Nase“, lobt die Klassenlehrerin. Rose - Hose, Fisch - Tisch, Trompete - Rakete, Boxhandschuh - Känguru – mal geht es ganz schnell, mal müssen die Kinder länger überlegen. Dann sollen die Bilder einem Artikel zugeordnet werden. Für Mihaela kein Problem, andere müssen sich aufs Raten verlassen.

„Nehmt mal eure grünen Hefte raus“, lautet die Anweisung von Frau Tramm – die Kinder jubeln. Jetzt können sie jeder für sich in ihrem Arbeitsheft Abbildungen von Gegenständen ausschneiden, entsprechend dem Anfangsbuchstaben in der richtigen Reihe aufkleben und anmalen. Ihre Lehrerin geht rum, fragt nach, korrigiert, übt die richtige Aussprache der Laute, lobt. Wer fertig ist, kann in einer der vielen Ecken im Klassenraum spielen, mit Puppen, Bauklötzen oder Gesellschaftsspielen. Tramm: „Wichtig ist, dass sie dabei sprechen. Beim Memory reicht es nicht, die Karten umzudrehen, sondern sie müssen sagen, was sie sehen.“

Auf allen Gegenständen ist die richtige Bezeichnung als Wort in Druckbuchstaben angebracht (Stuhl, Tisch, Regal usw.). Kinder finden in den Regalen Hefte mit verschiedenen abgebildeten Alltagssituationen, mit denen sie den Grundwortschatz üben können. Wenn sie bei der Aussprache unsicher sind, können sie sich ein Plakat anschauen, auf denen für die einzelnen Buchstaben Lautgebärden dargestellt sind. Je jünger sie sind, umso eher fragen sie einfach ihre Lehrerin – Frau Tramm hat permanent alle Hände voll zu tun.

Ihre Klasse ist bunt gemischt: Fünf Kinder kommen aus Syrien, drei aus den USA, die übrigen aus Italien, Polen, Rumänien, Moldawien, Ungarn – die Muttersprache hört man hier selten, denn nur in Deutsch können sich alle verständigen. Die meisten Zehnjährigen sind zum neuen Schulhalbjahr in eine reguläre dritte Klasse gekommen, die Sechsjährigen werden nach den Sommerferien in eine erste Klasse eingeschult. Für die Sprachlernklasse ist der Ganztagsunterricht obligatorisch. Über die Projekte am Nachmittag wie auch den gemeinsamen Sportunterricht sollen so erste Kontakte zu deutschen Mädchen und Jungen entstehen. „Es gab Skepsis gegenüber dem Ganztagsunterricht bei Eltern aus dem Irak. Wichtig ist daher, den Kontakt zu ihnen zu halten und auch auf Dolmetscher zurückzugreifen, um ihnen das Konzept zu erklären“, sagt Schulleiter Detlev Soetbeer. Seine Schule lädt sie einmal die Woche zu einem gut besuchten Elterncafé ein.

Kinder aus Kriegsgebieten wie Syrien konnten dort teilweise jahrelang nicht zur Schule gehen. Sie zucken immer noch zusammen oder verstecken sich, wenn sie während der Pause auf dem Schulhof einen Hubschrauber in der Luft hören. „Wir hatten im letzten Jahr einen Jungen aus dem Irak, der nicht auf Toilette wollte, weil er im Irak dort zuletzt seinen Vater gesehen hatte. Es dauert, bis man diese schwierigen Hintergründe versteht“, sagt Tramm.

In Niedersachsen gibt es rund 240 Sprachlernklassen. In Berlin existieren derzeit mehr als 300 Willkommensklassen – die Zahl hat sich seit 2012 verdreifacht. Für Jugendliche gibt es solche Klassen auch an Gymnasien. Im Wald-Gymnasium Charlottenburg, wo bis zu zwölf Jugendliche im Alter von 12 bis 16 Jahren unterrichtet werden, wechselt nach spätestens einem Jahr ein Drittel in eine reguläre Gymnasialklasse, zwei Drittel besuchen danach eine Sekundarschule. Als schwierig gilt dieser Übergang – Schulleiter Wolfgang Ismer wünscht sich mehr Zeit und Stellen, damit ausländische Schüler am Anfang in ihrer neuen Klasse bei Problemen spezielle Hilfen bekommen.

An der Hehlentorschule bekommen die ausländischen Kinder nach dem Wechsel in eine reguläre Klasse anfangs oft noch besondere Aufgaben. „Nicht in Mathe, da gibt es kaum Probleme, aber die deutsche Sprache ist gerade für Kinder aus dem arabischen Sprachraum mit ganz anderen Schriftzeichen doch eine große Umstellung.“ Tramm weiß, dass sie im laufenden Schuljahr weitere Mädchen und Jungen in ihre Gruppe aufnehmen muss, sobald ein Platz frei wird – 15 Kinder in ihrer Sprachlernklasse sind die Obergrenze. Das schreckt sie nicht: „Jeder ist hier auf einem anderen Stand, ich muss mich um jedes Kind speziell kümmern. Doch die Kinder kommen gerne und sind sehr wissbegierig. Am Anfang des Schuljahres konnte niemand Deutsch, sie haben alle große Fortschritte gemacht.“

Umfrage:
Eine im Mai 2015 vom Ernst Klett Verlag durchgeführte Umfrage unter Lehrkräften der Sprachlern- und Regelklassen hat ergeben, dass neben den sprachlichen Herausforderungen vor allem hohe Aufmerksamkeits- und Konzentrationsprobleme, kein Kindergarten- oder Schulbesuch im Herkunftsland sowie Konflikte im Klassenzimmer zu den größten Schwierigkeiten im Schulalltag zählen. Die Lehrer wünschen sich bundesweit insgesamt mehr Kapazitäten und eine bessere Ausstattung.

Kompakt:
Ganztagsunterricht und gemeinsame Projekte mit deutschen Kindern, enger Kontakt zu den Eltern, differenzierter Unterricht je nach Sprachkenntnissen und Alter der Kinder, Gruppen mit Kindern verschiedener Muttersprachen und dabei immer Situationen schaffen, die zum Sprechen anregen – so wird in der Sprachlernklasse an der Grundschule Hehlentor in Celle versucht, ausländischen Kindern in kurzer Zeit Deutsch beizubringen.