Adobe Stock | connel_design

Ein Plädoyer für die klassischen Texte

(sl) Die Vermittlung von Literatur steht vor ganz neuen Herausforderungen, nicht nur vor dem Hintergrund kulturell und ethnisch vielfältiger Klassengemeinschaften. Wie und mit welchen Folgen, erläutert Literaturexperte Joachim Hagner.

Experten fürchten, Literatur könne heutzutage den Schülerinnen und Schülern immer weniger nahegebracht werden – steckt der Literaturunterricht in der Krise?
Von Krise möchte ich nicht reden. Aber es gibt eine Reihe von Herausforderungen, denen sich die Vermittlung von Literatur heute gegenübersieht. Eine davon ist die abnehmende Leseerfahrung der Schülerinnen und Schüler im Verbund mit dem beschleunigten Sprachwandel, denn das führt dazu, dass Texte wie etwa die Novellen von Gottfried Keller ein Vielfaches an (Wort-)Erläuterungen erfordern. Ohne diese Worterläuterungen, die eben nicht mehr nur Fremdwörter oder Fachbegriffe betreffen, sondern oft auch nicht mehr ganz so häufig gebrauchte deutsche Wörter oder Ausdrücke, verliert man viel Zeit mit dem Klären dieser Wörter oder Ausdrücke – ohne das die Texte nicht angemessen erschlossen werden können. Außerdem haben die Schülerinnen und Schüler verstärkt Schwierigkeiten mit komplexeren Sätzen, wie sie sich in literarischen Texten aber nun einmal finden.

Woran könnte das liegen?
Im Internet und vor allem in den sozialen Netzwerken, die im Leben der Schülerinnen und Schüler eine enorme Rolle spielen, begegnet man kaum komplexen Sätzen, und da deren Verständnis zum einem Gutteil auch Folge von Übung ist, fällt dieses Verständnis schwer, wenn die Übung fehlt.

Heutige Schüler/-innen sind also nicht weniger intelligent?
Nein, das sind sie ohne Zweifel nicht. Sie lernen ja z. B. innerhalb kürzester Zeit, die vielen Abkürzungen zu dechiffrieren, die in den sozialen Netzwerken gebraucht werden. Und wenn Sie bedenken, wie schnell die Schülerinnen und Schüler die teilweise äußerst verschlungenen Pfade zu begehrten Inhalten im Netz finden, dann könnte man durchaus unterstellen, dass ihre Problemlösungskompetenz zugenommen hat.

Die größte Herausforderung der Literaturvermittlung ist die Konkurrenz durch die neuen Medien?
So könnte man es ausdrücken. Und in dieser Konkurrenz hat die Literaturvermittlung es vor allem deshalb schwer, weil nicht nur Schülerinnen und Schüler dazu neigen, den bequemeren Weg zu gehen, und die neuen Medien Inhalte auf eine viel bequemere Weise vermitteln.

Kann die Literaturvermittlung diesen Konkurrenzkampf gewinnen?
Unter bestimmten Voraussetzungen, ja. Sie muss dazu aber zeigen, dass Literatur bestimmte Vorzüge hat, die andere Medien nicht haben, und das kann sie nur unter zwei Bedingungen: Zum einen muss die Literaturvermittlung ihre Gegenstände zunächst als das ganz Andere präsentieren, weil sie nur auf diese Weise die Distanz ermöglichen kann, die die Bedingung für eine Erschließung der inhaltlichen und formalen Vorzüge von Literatur ist. Ich plädiere deshalb auch ausdrücklich gegen Literatur, die die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler abbildet und sie immer wieder mit der Nase auf das stößt, womit sie ohnehin täglich beschäftigt sind. Wenn sie dann aber einmal nachvollzogen haben, wie etwa Effi Briest im 19. Jahrhundert daran zugrunde geht, dass sie – und ihr Umfeld – keine eigene Sprache und entsprechend auch keine eigenen Werte gefunden hat, wie sie zwischen Selbst- und Fremdbestimmung zerrieben wird, dann können die Schülerinnen und Schüler durchaus auch Bezüge zur Situation einer Muslima in unseren Tagen herstellen.

Inhalte von Literatur sollten also nicht zu dicht an die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler herantreten?
Wenn sie es tun, erkennen Schülerinnen und Schüler entweder nicht, inwiefern sie betroffen sind – weil dazu eben Distanz erforderlich ist –, oder sie reagieren gehemmt, da sie ständig fürchten, dass man ihre Aussagen über Literatur als Selbstaussagen auffasst. Zum anderen muss die Literaturvermittlung meines Erachtens mit einem bestimmten und bewussten Interpretationsverständnisarbeiten: Sie muss Interpretieren mit dem Nachvollzug der Gestaltungsentscheidungen gleichsetzen, die in Gestalt des Texts vorliegen.

Wenn sie nämlich konsequent dazu anhält zu überlegen, warum an einer bestimmten Stelle eines Textes das steht, was da steht, und nicht etwas anderes, dann macht sie – und das bewährt sich gerade bei schwierigen Texten – das anfängliche Unverständnis oder Staunen der Schülerinnen und Schüler, das sie zunächst zurückstößt, zum Prinzip der Erschließung von Texten und damit zu etwas Positivem.

Ein guter Teil der Schülerinnen und Schüler hat heute andere sprachliche und kulturelle Wurzeln. Vor welchen Herausforderungen steht der Literaturunterricht an dieser Stelle?
Andere sprachliche Wurzeln können Verständnisprobleme aufwerfen, doch die kann man meistens durch umfangreich erläuterte und kommentierte Ausgaben der Texte beheben. Sprache transportiert aber auch die Werte, die innerhalb einer Kulturgemeinschaft gelten, und ihre Geschichte, sodass man die sprachlichen und die kulturellen Wurzeln nie sauber trennen kann – und da liegt ein großes Problem: Stehen die Werte, die sich in einer anderen Sprache niedergeschlagen haben, quer zu denen, die die Sprache des jeweiligen Textes vermittelt, dann bleiben Verständnisdefizite, und die können dann kommentierte Ausgaben oder selbst ein entsprechend differenzierender Unterricht nicht mehr ohne Weiteres beheben. In solchen Fällen ist nicht der Literatur-, sondern der Sprachunterricht gefragt.

Insgesamt ein klares Plädoyer gegen die „Vereinfachung“ des Literaturunterrichts?
Damit wir über etwas nachdenken, muss es uns problematisch geworden sein: Sie werden erst dann feststellen, was Sie alles Wunderbares mit Ihrer Hand tun können, wenn Sie sich geschnitten haben und sie eine Zeit lang nicht benutzen können. Und genauso brauchen wir „Stolpersteine“, damit wir über eine bestimmte Formulierung oder Handlung in einem Roman nachdenken. Viele der literarischen Texte, die sich heute den Schülerinnen und Schülern andienen, leisten aber genau das nicht, alles ist darin glattgeschliffen, und aus diesem Grund plädiere ich für die „klassischen“ Texte oder solche, die es einmal werden könnten. Außerdem erfüllt es nach meiner Erfahrung Schülerinnen und Schüler mit einem gewissen Stolz, wenn sie in der Auseinandersetzung mit anfänglich schwierigen Texten erfahren haben, dass sie weit mehr können, als sie selbst gedacht hatten – und das motiviert ungemein.

Welche Rolle spielt bei der Motivation die Lehrerpersönlichkeit?
Die Hattie-Studien haben ja den hohen Stellenwert der Lehrpersönlichkeit unterstrichen, und im Literaturunterricht spielt sie mit Sicherheit eine noch größere Rolle als in anderen Unterrichtszusammenhängen: Nur wenn die Lehrkraft selbst von Literatur begeistert ist und die Schülerinnen und Schüler das auch merken, kann sie sie ihrerseits begeistern. Die Einführung der Bachelor- und Masterstudiengänge lässt den angehenden Lehrerinnen und Lehrernallerdings kaum noch Zeit, zu Literaturliebhabern zu werden, wenn sie es nicht ohnehin schon waren, und das macht sich inzwischen auch in der Schule bemerkbar.

Zur Person:
Joachim Hagner (Jg. 67) ist stellvertretender Schulleiter am Berliner Rheingau-Gymnasium und Herausgeber von „deutsch.kompetent NO“ (Berlin, Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern).