Sprachliche und kulturelle Diversität im Spanischunterricht
Melanie Arriagada, Annette Kroschewski
Das in den neuen Bildungsstandards beschriebene Konzept der inter-, trans- bzw. plurikulturellen Kompetenz, die Mehrkulturalität bzw. kulturelle Vielfalt der Lernenden sowie die individuellen Sprachbiographien (vgl. KMK 2023) sind von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Sie betreffen auch (und oft vor allem) den Bereich der Pragmatik.
Diese wird jedoch bisweilen erst dann berücksichtigt, wenn der vorgesehene lexikalisch-grammatische „Stoff“ bereits vermittelt wurde. Ihre Didaktisierung in Lehr- und Lernmaterialien wird teilweise als zu aufwändig oder aus anderen Gründen als zu schwierig angesehen. Wenn aber das Ziel des Fremdsprachenunterrichts darin besteht, die Lernenden zu befähigen, „in fremd- und mehrsprachigen Kommunikationssituationen kompetent zu handeln” und dabei auch „soziolinguistisches und -kulturelles Wissen [und] kommunikative Strategien [...] als Ressource“ nutzen zu können (ebd.: 7), dann sollte die Spracharbeit auch „rules of use without which the rules of grammar would be useless” thematisieren (Hymes 1972: 278, zit. in Kroschewski 2000: 113).
Dieser Aufgabe widmet sich die Pragmatik: Mehr noch als die grammatische Korrektheit entscheidet in vielen Kontexten die kulturelle Angemessenheit über den Erfolg plurikultureller Kommunikation. Nicht zuletzt angesichts aktueller und zukünftiger Fortschritte in der Spracherkennung, Übersetzung und Textgenerierung, unterstützt durch künstliche Intelligenz, gewinnt das plurikulturelle Bewusstsein für die Vielfalt konvergierender, aber auch divergierender Höflichkeitsformen an Bedeutung. Die sprachliche und kulturelle Vielfalt der Lernenden stellt eine flexible, die Lernenden wertschätzende und authentische pragmatische Ressource für die Spracharbeit dar.
Die folgende Strategie veranschaulicht, wie Pragmatik anhand integrativer, kultur- und sprachenübergreifender kommunikativer Aktivitäten, die verschiedene Herkunftssprachen einbeziehen, in der Spracharbeit bereits ab dem 1. und 2. Lernjahr mit oder ohne Lehrwerk einfließen kann.
Inter- (und intra-) bzw. transkultureller Vergleich von Höflichkeitskonventionen zur Bewusstmachung pragmatischer Angemessenheit (Material 10: KV 1; Material 10: KV 2 )
Pragmatische Fehler gelten in inter- bzw. transkulturellen Begegnungssituationen nicht selten als schwerwiegende Fehler: Wer hier einen Fehler macht, kann nicht nur ungewollt einen anderen Menschen beleidigen, sondern auch selbst von anderen als zu direkt oder unhöflich wahrgenommen werden. Fauxpas in der Formulierung betreffen nicht nur WAS „man“ sagt oder WIE „man“ es sagt, sondern auch WANN und dann, OB „man“ es sagen soll. Aber wie kann diese häufig unbewusste und „unsichtbare Seite“ von Sprachen im Unterricht sichtbar bzw. bewusst gemacht und reflektiert werden?
Die folgende Strategie macht sich nicht nur die herkunftsbedingte, individuelle bzw. lebensweltliche Mehrsprachigkeit zunutze, sondern auch die sprachliche Vielfalt des Spanischen als plurizentrische Sprache. Cultural Diversity wird mit dem Thema „Essen“ verknüpft, um die Förderung pragmatischer Kompetenz an einem alltäglichen Beispiel zu veranschaulichen.
Ziel dieser Strategie ist es, ausgehend von den Herkunftssprachen der Lernenden, Konventionen rund um die Äußerung „Guten Appetit“ inter- und transkulturell zu reflektieren, um das soziolinguistische und -kulturelle Wissen der Lernenden zu vertiefen sowie pragmatische Kompetenzen zu erweitern. Diese Strategie folgt den Prinzipien: 1) sich zunächst der pragmatischen Konventionen der eigenen Herkunftssprache(n) bewusst zu werden, 2) anhand des Vergleichs der Konventionen der Herkunftssprachen im Klassenraum für Divergenzen und Konvergenzen zwischen Sprachen und Kulturen zu sensibilisieren und 3) Offenheit für Variationen in der kulturell bedingten Angemessenheit in der Zielsprache Spanisch sowie weiterer Sprachen und Kulturen zu fördern. Dabei sind auch soziokulturelle und regionale Unterschiede (z.B. „Mahlzeit” oder „an Guadn”) sowie transkulturelle Aspekte zu berücksichtigen und Stereotypenbildungen vorzubeugen bzw. kritisch zu reflektieren.
Schritt 1: Es wird ein Sprechakt mit hoher Gebrauchswahrscheinlichkeit in authentischen kommunikativen Situationen ausgewählt. Der Kontext, die Teilnehmenden und die soziale Relevanz der Situation sind für den plurikulturellen Vergleich grundlegend. Im Folgenden wird beispielhaft die Äußerung vor einem gemeinsamen Essen bzw. der Verzicht auf eine solche Äußerung als Grundlage für diesen Vergleich verwendet. Dies kann auch visuell gestützt mit einem Bildimpuls erfolgen (vgl. Material 10: KV 1; Material 10: KV 2 ).
Schritt 2: Die Lehrkraft stellt der Klasse den kommunikativen Rahmen der Sprechsituation vor: Wenn ihr in euren Familien gemeinsam esst: Wird etwas gesagt, bevor ihr mit dem Essen beginnt, oder nicht? Wenn ja, was wird gesagt und warum? Oder wenn nicht, warum? Die Lernenden schreiben in Einzelarbeit die Äußerungen auf, die aus ihrer Erfahrung in ihren Herkunftssprachen/-kulturen angemessen sind.
Schritt 3: Der erste Austausch erfolgt zunächst in Gruppen. In diesem geschützten Raum besprechen die Lernenden ihre Ergebnisse. Als „Botschafter:innen“ bzw. „Expert:innen“ ihrer Herkunftssprachen und Kulturen sollten sich alle durch eine wertschätzende Haltung auszeichnen. So betont die Lehrkraft, dass Offenheit, Toleranz und Respekt gegenüber potenziell divergierenden Formulierungen und Ansichten sowohl innerhalb (z.B. zwischen Familientraditionen und Gemeinschaften) als auch außerhalb der Herkunftssprachen zu pflegen sind. Bei einem solchen Austausch dienen die Beispiele als „Reflexionsanlässe“, die durch vielfältige Vergleiche, individuelle und gemeinsame Reflexionen geprägt, jedoch „keinesfalls als generalisierende Urteile“ (vgl. auch Kroschewski 2000: 119) zu verstehen sind. Die Lernenden füllen die Tabelle gemeinsam aus.
Sprache |
Ausdruck |
Warum wird dieser Ausdruck benutzt? Warum wird kein Ausdruck benutzt bzw. gibt es unangemessene Ausdrücke? |
… |
… |
… |
Schritt 4: Die Ergebnisse der Gruppendiskussionen werden im Plenum vorgetragen. Die Teilnahme am Gespräch seitens der Lernenden sollte auf freiwilliger Basis erfolgen. „Othering“ (z. B. durch eine Aussage der Lehrkraft wie „Wie sagt IHR das in EURER Sprache oder Kultur?“) ist auf jeden Fall zu vermeiden. Die Ergebnisse werden in einer gemeinsamen Klassentabelle festgehalten. Die Lernenden werden eingeladen, die Äußerungen ihrer jeweiligen Herkunftssprache selbst in der Tabelle an der Tafel oder digital festzuhalten und eine kurze Erklärung zu den kontextuellen Rahmenbedingungen zu geben. Auf der Basis dieser Ergebnisse wird eine sprachenübergreifende Analyse von der Klasse vorgenommen mit dem Ziel, die plurikulturelle Sprachbewusstheit der Lernenden zu fördern. So werden die Lernenden durch das Unterrichtsgespräch dafür sensibilisiert, dass jede Höflichkeitsformel als angemessen und wertvoll in ihren eigenen Kontexten wahrzunehmen ist, auch wenn diese inter- oder intralingual konvergierend oder divergierend sein können.
Sprache |
Ausdruck |
Warum wird dieser Ausdruck benutzt? Warum wird kein Ausdruck benutzt bzw. gibt es unangemessene Ausdrücke? |
Polnisch |
Smacznego |
Das wird vor dem Essen gesagt. Aber nach dem Essen muss man sich auch bedanken. Man sagt dann dziękuję. |
Türkisch |
Afiyet olsun |
Man sagt das vor dem Essen. Es bedeutet etwas wie „Möge zu deinem Wohlbefinden beitragen“. Nach dem Essen gibt es auch einen anderen Ausdruck, den man unbedingt sagen sollte: Ellerine sağlık. Das bedeutet auf Deutsch in etwa „Gesundheit deinen Händen“. |
… |
… |
… |
Ein Vergleich zum Englischen kann hier ebenfalls einbezogen werden. Kontexte und Gepflogenheiten können zwar variieren, aber es ist nicht üblich, dass vor dem Essen in authentischen Kontexten Good appetite gewünscht wird (ggf. Enjoy your meal, z. B. in der Werbung oder wenn das Essen im Restaurant serviert wird, oder Enjoy, das in der Werbung häufig in Verbindung mit bestimmten Produktnamen verwendet wird). Auch eine koreanische Äußerung wie „Hast du schon gegessen?“ könnte einbezogen werden. Sie bedeutet jedoch „Wie geht es dir?“ und wird als höfliche Begrüßung verwendet. Äußerungen wie diese können als pragmatische false friends betrachtet und reflektiert werden (und gehen damit über bekannte false friends wie gift oder become in *Can I become a beefsteak? hinaus); auch spezifische Äußerungen wie „saying grace” könnten einbezogen werden, die nicht wörtlich als Aufforderung zu verstehen sind, dass das Wort „grace” gesagt wird (vgl. hierzu auch den im Arbeitsblatt integrierten Link zu einer Szene aus dem Film Hook, in dem dies auf humoristische Weise illustriert wird); zudem können pragmatische true friends reflektiert werden, wenn Form und Bedeutung von Äußerungen auch im interkulturellen Vergleich ähnlich sind (vgl. auch Kroschewski 2000).
Schritt 5: Auf der Basis dieser Erkenntnisse wird der Fokus der Analyse auf das Spanische gerichtet. Da die pragmatische Angemessenheit in der spanischsprachigen Welt auf der Grundlage ihrer Plurizentrik unterschiedlich wahrgenommen und ausgedrückt wird, baut diese Aktivität auf den Vergleich aus Schritt 4 auf, um auch für pragmatische Variationen der Angemessenheit innerhalb des Spanischen zu sensibilisieren. Die Links in der folgenden Tabelle können als Orientierung dienen, so dass die Lernenden nach Informationen zu pragmatisch angemessenen Ausdrücken in Spanien und in anderen spanischsprachigen Ländern suchen können. In den ersten Lernjahren kann die Lehrkraft die Informationen für die Lernenden vereinfachen und bereitstellen. In höheren Jahrgängen kann alternativ mit einem WebQuest gearbeitet werden.
Spanisch-sprachiges Land |
Ausdruck |
Warum wird dieser Ausdruck benutzt? Was bedeutet er? Warum wird kein Ausdruck benutzt bzw. gibt es unangemessene Ausdrücke? (Mit * markieren) |
Spanien |
¡Que aproveche! Buen apetito* |
https://www.fundeu.es/consulta/buen-provecho-384/ ¡Que aproveche! ist in Spanien angemessen. Buen apetito* ist eine wörtliche Übersetzung aus dem Französischen. |
Peru |
Disfruten de la comida Provecho* |
In Peru wird die Verwendung nicht als angemessen angesehen. Man sollte keiner Person Provecho* wünschen, denn es wird wie „aufstoßen“ interpretiert. Stattdessen kann man sagen disfruten de la comida. |
Chile |
Buen Apetito (Buen) Provecho* |
In einigen Familien in Chile wird es nicht verwendet, denn es wird als unangemessen betrachtet. In anderen Familien wünscht man buen apetito. Provecho bedeutet „aufstoßen“ und ist somit nicht angemessen. |
Schritt 6: Bei der Sicherung der Ergebnisse im Plenum wird erneut bewusst gemacht, dass es, wie in Schritt 4, auch in der spanischsprachigen Welt Unterschiede in der Einschätzung pragmatisch angemessener Höflichkeitskonventionen gibt.
Weitere Beispiele, die gut im Unterricht besprochen werden können, sind Angemessenheit und Höflichkeit mit Blick auf (In-)Direktheit (z.B. „Kannst/Könntest Du/Könn(t)en Sie mir (bitte) helfen?“ oder „Could you help me please?” im Vergleich zu „¿Puedes ayudarme?“ und weiteren Sprachen; „Kannst/Könntest Du mir (bitte) … geben?”/„Gib mir bitte…” in verschiedenen Sprachen…), angemessenes Verhalten in Gesprächen (z. B. mit Blick auf pragmatische Marker, etwas/eine Meinung höflich ablehnen/höflich widersprechen, eine Einladung aussprechen/annehmen oder höflich ablehnen) in verschiedenen Sprachen und Kulturen (auch mit Blick auf die Vielfalt von Ausdrucksmöglichkeiten innerhalb verschiedener Sprachen und Kulturen). Zur Veranschaulichung unterschiedlicher Formulierungen von Bitten finden sich exemplarische Möglichkeiten für die unterrichtliche Besprechung in den bereitgestellten Arbeitsmaterialien (vgl. das Arbeitsblatt „Formulierung von Bitten in einem Kurzfilm“).
Lernende werden auf diese Weise dafür sensibilisiert, Formulierungen und Konventionen von einem Sprach- und Kulturraum nicht einfach ohne Reflexion auf einen anderen zu übertragen: Im „besten“ Fall wird man nicht verstanden. Im schlimmsten Fall wird man eine andere Person beleidigen oder sich selbst ungewollt als unhöflich darstellen. Um dies zu vermeiden und stattdessen neben plurilingualen auch plurikulturelle Kompetenzen im Bereich der Pragmatik gezielt zu fördern, können Beispiele wie diese sowie weitere Ressourcen in einem diversitäts- und mehrsprachigkeitssensiblen Sprachenunterricht reflektiert werden.
1 Die folgenden Beispiele basieren auf authentischen (mündlichen und schriftlichen) Beiträgen von Schüler*innen bei einer unterrichtlichen Erprobung einer solchen Aktivität.
Kroschewski, Annette (2000): False friends und true friends. Ein Beitrag zur Klassifizierung des Phänomens der intersprachlich-heterogenen Referenz und zu deren fremdsprachendidaktischen Implikationen. Frankfurt am Main: Peter Lang.
Kultusministerkonferenz (KMK) (2023): Bildungsstandards für die erste Fremdsprache (Englisch/Französisch) für den Ersten Schulabschluss und Mittleren Schulabschluss (Beschluss der Kultusministerkonferenz vom 15.10.2004 und vom 04.12.2003 i.d.F. vom 22.06.2023).
[Online: https://www.kmk.org/themen/qualitaetssicherung-in-schulen/bildungsstandards.html; 08.11.2024].