Sprachliche und kulturelle Diversität im Spanischunterricht

Herkunftssprache Ukrainisch

Kerstin-Sabine Heinen-Ludzuweit, Markus Steinhoff

Das grammatische Phänomen des Aspekts im Ukrainischen dient zur Unterscheidung von Handlungen in der Vergangenheit im Hinblick auf ihre zeitliche Ausdehnung, d.h. ob eine Handlung als abgeschlossen (perfektiver Aspekt) oder andauernd (imperfektiver Aspekt) dargestellt wird. Damit ergibt sich eine Analogie zum Spanischen, wenngleich in den romanischen Sprachen Aspektualiät und Temporalität zusammenfallen, d. h. pretérito indefinidio vs. pretérito imperfecto stellen zwei eigenständige Vergangenheitszeiten dar und enthalten gleichzeitig den Aspekt einer vollendeten und der unvollendeten Handlung. Im Ukrainischen wie auch in anderen slawischen Sprachen stellen Aspektualität und Temporalität zwei getrennte Elemente dar: Aspektualität wird im Ukrainischen nicht durch unterschiedliche Tempusformen, sondern durch morphologische Veränderungen im Verb (u. a. durch Präfixe) oder auch Adverbien ausgedrückt. Dies verdeutlichen die folgenden Beispiele:

Beispiel Spanisch:

Ayer leí un libro.

à    Der perfektive Aspekt der Handlung wird durch die Zeitform pretérito indefinido und das Adverb ayer ausgedrückt.

Mientras leía un libro sonó mi móvil.

à    Der imperfektive Aspekt wird durch die Zeitform pretérito imperfecto und die Begleitumstände ausgedrückt.

Beispiel Ukrainisch:

Я прочитав книгу. (lautsprachlich: Ya prochytav knyhu.) (Ich habe das Buch (zu Ende) gelesen.

à    Der perfektive Aspekt wird durch ein Präfix прочитати (lautsprachlich:     prochytaty) auf morphologischer Ebene verdeutlicht, ein Tempuswechsel findet nicht statt.

Я читав книгу. (lautsprachlich: Ya chytav knyhu.) (Ich las das Buch.)

à    Der imperfektive Aspekt wird durch Wegfall der Präfigierung und ohne Tempuswechsel verdeutlicht.

Einbeziehung des Englischen

Einen ähnlichen Zugang sollte auch das Englische ermöglichen, da auch hier eine Aspektualität im Bereich der Vergangenheitszeiten vorliegt: Im Englischen wird die einfache Vergangenheit (simple past) genutzt, um abgeschlossene Handlungen in der Vergangenheit auszudrücken, wie in „I ate pizza yesterday“. Für wiederholte oder andauernde Handlungen können auch das past continuous („I was eating pizza“) oder, bei Fortdauer der in der Vergangenheit begonnenen Handlung in der Gegenwart, das present perfect („I have eaten pizza“) verwendet werden.

Aus dem oben Gesagten ergibt sich dann folgende Übersicht zur Verdeutlichung:

Aspekt

Spanisch

Deutsch

Ukrainisch

Englisch

perfektiver Aspekt
(abgeschlossene Handlung)

pretérito indefinido

Präteritum

Aspektualität

wird u.a. durch morpho-logische Veränderungen des Verbs, 
z.B. durch Präfixe markiert.

simple past

imperfektiver Aspekt
(unvollendete bzw. sich wiederholende Handlung)

pretérito imperfecto

Perfekt

past continous

present perfect

Die nachfolgend dargelegte Unterrichtsidee (Material 8) soll mittels dramagrammatischer Elemente einen handlungsorientierten Zugang eröffnen, mit dem die Lernenden für den perfektiven bzw. imperfektiven Aspekt sensibilisiert werden können. Insbesondere für herkunftssprachlich ukrainischsprachige Lernende soll das Verständnis für die jeweilige Anwendung der Vergangenheitsformen des Spanischen über den interlingualen Vergleich erleichtert werden. Die Unterrichtsskizze soll einen Beitrag dazu leisten, Plurilingualität nicht als Hindernis, sondern als Ressource zu sehen. Sie soll Mut machen, in herkunftssprachlich und kulturell zunehmend heterogenen Lerngruppen auch unbekanntes Terrain zu betreten und appelliert an die Experimentierfreude der Lehrkraft. Auch eine Adaption der Unterrichtsidee an andere slawische Herkunftssprachen bietet sich hinsichtlich der grammatischen Kategorie Aspektualität an, da hier aus linguistischer Sicht in hohem Maße eine Übertragbarkeit gegeben ist. Der grundsätzlich nachvollziehbare Einwand, dass ohne zumindest grundlegende Kenntnisse in der betreffenden slawischen Herkunftssprache eine Lehrkraft Mühe haben wird, die Unterrichtsidee umzusetzen, lässt sich zumindest dadurch relativieren, dass an geeigneter Stelle die jeweiligen Schüler:innen als Expert:innen für ihre Herkunftssprache(n) in den Vermittlungsprozess einbezogen werden.

Bryant, Doreen (2012): DaZ und Theater: Der dramapädagogische Ansatz zur Förderung der Bildungssprache. In: Scenario. Sprache-Kultur-Literatur. Volume VI, Issue 1. Online:
https://doi.org/10.33178/scenario.6.1.3 (Zugriff vom 28.11.2024).

Even, Susanne (2003): Drama Grammatik. Dramapädagogische Ansätze für den Grammatikunterricht Deutsch als Fremdsprache. Iudicium, München