Sprachliche und kulturelle Diversität im Spanischunterricht
Andreas Grünewald
Mehrsprachigkeit ist heute eine Realität, die durch Migration, Globalisierung und zunehmende Kontakte zwischen verschiedenen Sprachen geprägt ist. Laut dem Mikrozensus hatten im Jahr 2021 über ein Drittel (39 Prozent) der Schüler:innen in Deutschland einen Migrationshintergrund; in Bremen betrifft das sogar mehr als die Hälfte und in Nordrhein-Westfalen 43 Prozent. Im Schuljahr 2021/2022 boten vierzehn Bundesländer sogenannten herkunftssprachlichen Unterricht an, in dem Schüler:innen ihre Familiensprache lernen oder vertiefen können. Dieser Unterricht wird entweder von den Bundesländern selbst oder von Konsulaten organisiert.
In der Schule sprechen wir bei Mehrsprachigkeit meist von individueller Mehrsprachigkeit, das heißt, dass bei einer Person mehrere Sprachen im mentalen System verbunden sind und miteinander interagieren (HU 2024:334). Dabei wird Mehrsprachigkeit nicht als perfektes Beherrschen mehrerer Sprachen verstanden, sondern als die Fähigkeit, sich in verschiedenen kommunikativen und kulturellen Situationen zurechtzufinden (ebd.).
Mehrsprachigkeit ist nicht nur Ziel der sprachlichen Bildung, sondern oft auch Grundlage für das Erlernen weiterer Sprachen. Die europäische Sprachpolitik fördert dieses Ziel, indem sie verlangt, dass Schüler:innen mindestens zwei weitere Sprachen neben ihrer Erstsprache lernen, um die Verständigung auf europäischer und internationaler Ebene zu stärken. Mehrsprachigkeit unterstützt das Lernen weiterer Sprachen, da bereits vorhandenes Sprachwissen und Lernstrategien genutzt werden können.
Die drei wichtigsten Ansätze, wie individuelle Mehrsprachigkeit im Spanischunterricht berücksichtigt werden kann, sind:
1. Sprachverwandtschaft: Hier geht es darum, das Bewusstsein für ähnliche sprachliche Strukturen in verwandten Sprachen zu schärfen, damit Schüler:innen durch interlingualen Transfer mehrere Sprachen, besonders im Leseverstehen, parallel lernen können.
2. Vorheriges Sprachwissen: Ansätze der Tertiärsprachenforschung untersuchen, wie bereits gelernte Fremdsprachen (zum Beispiel L2 und L3) den Erwerb einer weiteren Sprache beeinflussen. Auf dieser Basis können Rückschlüsse für die Unterrichtspraxis gezogen werden.
3. Migration und Mehrsprachigkeit: Bei vielen Schüler:innen ist die Schulsprache Deutsch nicht ihre Erstsprache, sondern eine zweite oder dritte Sprache. Dabei bringen diese Schüler:innen oft unterschiedliche Sprachkenntnisse mit, die nicht immer systematisch erworben wurden. Ziel ist es, mehrsprachige und gerechte Bildungsmodelle zu entwickeln, die Spracherhalt, Förderung in der Bildungssprache und bilinguale Erziehung ermöglichen.
Beispiele für die Nutzung von Mehrsprachigkeit, z.B. zur Entwicklung von Sprachbewusstheit oder Sprachlernbewusstheit, sind interlinguale Vergleiche (Suche nach Ähnlichkeiten und Unterschieden in den Bereichen Lexik, Grammatik, Aussprache), die Suche nach Kognaten, d.h. Wörtern mit ähnlicher Form (aber nicht immer gleicher Bedeutung), Grammatiktransfer, Bewusstmachen von Sprachlernstrategien, Translanguaging (flexibler Wechsel zwischen Sprachen oder Sprachmischungen).
Allen Ansätzen liegt die Idee zugrunde, dass Sprachen nicht isoliert im Gehirn gespeichert sind, sondern gemeinsam zu einer umfassenden kommunikativen Kompetenz beitragen. Dabei ist davon auszugehen, dass das Erlernen neuer Sprachen auf bereits vorhandenes Wissen und Erfahrungen aufbaut (Meißner & Reinfried 1998, Hu 2024).
Neben der geschilderten individuellen Mehrsprachigkeit bringen die Schüler:innen auch einen vielfältigen kulturellen Hintergrund mit in das Klassenzimmer. Vielfach wissen Lehrkräfte weder von den sprachlichen Vorerfahrungen der Schüler:innen noch von den diversen kulturellen Hintergründen. Eine Möglichkeit, sowohl die sprachliche als auch die kulturelle Diversität im Klassenzimmer sichtbar zu machen, stellt der „Sprachenbaum“ dar [Material 1, KV01; Material 1, KV02], bei dem das Sprachenrepertoire und kulturelle Hintergründe sichtbar gemacht werden können.
Jedes grüne Blatt steht für eine Sprache, die die Schüler:innen beherrschen (grüne Blätter) oder die sie als Herkunftssprachen mitbringen (braune Blätter). So werden die Blätter beschriftet und an dem Baum angebracht. Auf die weißen Wolken werden die Sprachen notiert, die die Schüler:innen gerne lernen möchten.
Beispiel Abbildung:
Der Sprachenbaum lässt sich gut mit dem „Sprachenmenschen“ [Material 2] kombinieren, der dabei hilft, sprachliche Fähigkeiten und Fertigkeiten auf einfache und greifbare Weise sichtbar zu machen.
Beispiel Abbildung:
Beide Verfahren dienen der Sichtbarmachung der mehrsprachigen und plurikulturellen Ressourcen im Klassenzimmer und können Ausgangspunkt für eine gemeinsame Reflexion über Stärken und Schwächen der Schüler:innen in unterschiedlichen Sprachen sein. Dabei kann der Frage nachgegangen werden, was es bedeutet eine Sprache „richtig gut zu können“ oder sich in einer Sprache „verständigen zu können“. Außerdem dienen diese Verfahren der Bewusstmachung von Sprachlernerfahrungen und können Ausgangspunkt zur Reflexion darüber sein, wie diese für das Erlernen neuer Sprachen genutzt werden können.
Nachdem Lehrkräfte sich eine Übersicht über das sprachliche und kulturelle Repertoire in ihrer Spanischlerngruppe gemacht haben, können folgende Reflexionsfragen dabei helfen, eine wertschätzende Haltung zu entwickeln, die die Mehrsprachigkeit und die Plurikulturalität der Lerngruppe berücksichtigt:
Meine Einstellung zur Mehrsprachigkeit
Unterrichtsgestaltung
Einbindung der mehrsprachigen und plurikulturellen Kompetenzen meiner Schüler:innen in den Spanischunterricht
Die folgenden Materialien sollen Spanischlehrkräften Anregungen geben, wie sie sprachliche und kulturelle Vielfalt im Unterricht auf der Grundlage der genannten Prinzipien einbinden können.
Verwendete Literatur
Hu, A. (2024): Mehrsprachigkeit und Mehrsprachigkeitsdidaktik. In: Surkamp, C. (Hg.): Metzler Lexikon Fremdsprachendidaktik. 334-339.
Meißner, F.-J./ Reinfried, M. (Hg.) (1998): Mehrsprachigkeitsdidaktik. Narr.
Fernández-Ammann, E. M., Kropp, A. & Müller-Lancé, J. (Hg.) (2015): Herkunftsbedingte Mehrsprachigkeit im Unterricht der romanischen Sprachen. Franke & Timme.
Mediendienst Integration (2022): Wie verbreitet ist herkunftssprachlicher Unterricht.
https://mediendienst-integration.de/fileadmin/Dateien/Factsheet_Herkunftssprachlicher_Unterricht_2022.pdf
Zum Weiterlesen empfohlen
Schöberle, W. & Wirth, G. (2015): Mehrsprachigkeit im Fremdsprachenunterricht. Vergleichen, kombinieren, profitieren. Unterrichtsvorschläge für den Fremdsprachenunterricht ab Klasse 8. Klett Verlag.
Fäcke, C. & Meißner, F.-J. (Hg.) (2019): Handbuch Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalitätsdidaktik.