Blended Learning und das Konzept des Flipped classroom
Möglichkeiten zur Erhöhung von Individualisierung, Kooperation und Interaktion im (face-to-face) Englischunterricht
von Margitta Kuty
Viele Lehrkräfte beklagen im Englischunterricht zu wenig Zeit zum Üben, zum Anwenden und vor allem zum problemlösenden, handlungsorientierten und/oder kooperativen Interagieren der Lernenden mit- und untereinander. Oft endet eine Unterrichtsstunde genau dann, wenn die Schülerinnen und Schüler soweit sind, dies zu tun. Viel Zeit wird (notwendigerweise) im Unterricht auf die Vorbereitung darauf verwendet.
Eine Möglichkeit, sich dieser Herausforderung zu stellen, kann im Konzept des flipped or inverted classroom liegen. Das Ziel des Konzeptes liegt vor allem darin, möglichst viel Raum für sinnvolle Kooperation und Interaktionen im Unterricht (face-to-face) zu schaffen und den Lernenden zugleich individuelle Freiräume und Zugänge zum Lernen (mit möglichst authentischen Medien) zu bieten. Das bedeutet, dass geeignete Medien als Werkzeuge dienen (Lernen mit Medien). Die Lehrkraft muss sich bei diesem Konzept sowohl der Vorzüge als auch der Nachteile bewusst sein, ein gruppenspezifisch passendes Lernarrangement finden und die eigene Rolle anders denken.
Die gern in Diskussionen aufgeworfene Frage, ob und wann (neue) Medien den traditionellen Unterricht in der Schule ersetzen werden, ist in Studien und Metaanalysen seit den 1980igern (zur Übersicht vgl. Kerres, 2013, S. 77 ff;) eindeutig beantwortet worden:
Das Lernen mit digitalen Medien weist Potenziale auf, um bestimmte Lernformen zu unterstützen; es ist als solches aber nicht besser als andere Lehr-Lernformen und wird traditionellen Unterricht nicht grundsätzlich ersetzen…vielmehr kommen die Vorzüge des mediengestützten Lernens gerade in der Kombination mit anderen Elementen zum Tragen, und zwar dann, wenn die einzelnen Elemente in einem Lernarrangement zusammenwirken und eine Komposition ergeben, die ein bestimmtes didaktisches Anliegen einlöst. (Kerres 2013, 8)
Mehr zu Analysen von Metastudien siehe Means, B. et al: The effectiveness of online and blended learning: A Meta-Analysis of the Empirical Literature, 2013. https://www.sri.com/sites/default/files/publications/effectiveness_of_online_and_blended_learning.pdf
Auch beim Blended Learning bzw. innerhalb hybrider Lernarrangements (Kombination des mediengestützten Lernens mit Präsenzelementen beim Englischlernen) kommen die Potenziale digitaler Medien zum Tragen:
Bei kluger Kombination unterschiedlicher medialer und methodischer Elemente ermöglichen sie eine flexible zeitliche Lernorganisation (individuelle Anpassung z.B. des Lerntempos) auch an alternativen Lernorten. Sie bereiten die Schülerinnen und Schüler auf lebenslanges Lernen vor, indem sie (im Zuge der zunehmenden Diversität in der Lerngruppe) eine stärkere individuelle Selbststeuerung, mehr Kooperation und eine besondere Unterstützung bei problemorientierten Aufgabenstellungen ermöglichen. Dies kommt gerade der Kompetenzorientierung und der damit verbundenen Konzepte (wie des task-based/supported language learning) im Englischunterricht entgegen.
Die Grundidee des flipped oder inverted classroom Konzeptes besteht darin, Teile des Unterrichts auszulagern, um mehr Zeit zum gemeinsamen Üben, zum kollaborativen Vertiefen und kommunikationsrelevanten Anwenden im Unterricht zu ermöglichen. Der traditionelle ‚Präsenz’ unterricht kehrt sich also um: Phasen z. B. des Erarbeitens gehen in die Selbstlernzeit (ob Zuhause oder in der Schule in dafür vorgesehenen Lernzeiten) und Phasen des interaktiven Übens, Vertiefens und Anwendens (oftmals als Hausaufgaben vorgesehen) in den Unterricht (face-to-face). Beide Bestandteile (Präsenz- und Selbstlernphasen) sind eng aufeinander abgestimmt.
Für eine kurze Einführung in das Konzept siehe das animierte Erklärvideo (Flipped classroom: explained): https://www.youtube.com/watch?v=iQWvc6qhTds (1:48)
Neben Erklärvideos lassen sich auch andere Formate nutzen, wie z.B. kürzere Dokumentationen, animierte und/oder vertonte oder visualisierte Präsentationen bzw. Vorträge, kürzere Interviews, kürzere Filme mit erklärenden Passagen oder Video-Tutorials mit konkreten Handlungsanweisungen.
Thematisch sind viele Möglichkeiten denkbar: von der Erklärung (einzelner) sprachlicher Phänomene (z.B. Wortschatz, Aussprache, Grammatik) über landeskundliche Informationen bis hin zu Tutorials als Unterstützung bei der Lösung von komplexeren kommunikativen Lernaufgaben (z.B. How to give a presentation? How to do a job interview? How to be polite?) finden sich bereits eine Reihe von Angeboten sowohl in den Lehrwerken oder frei zugänglich im Internet. Damit wird deutlich, dass sich auch der Englischunterricht zunehmend dieser Form des Blended Learning öffnet.
The flipped model originally defined as ‘students watching pre-recorded lectures online’, and first associated with maths and science classes, at first sight does not appear to offer much to language learning…flipping is not a synonym for watching online videos and it is not all about technology. The ‘flipped classroom’ starts with one question: what is the best use of my face-to-face class time? The answer appears to be: One of the major benefits of the flipped concept is that it frees up class time in which teachers can create engaging learning experience for students. (McCarthy 2016, 60; Bergmann 2012 unter http://dailyedventures.com/index.php/2012/05/22/the-flipped-classroom-starts-with-one-question-what-is-the-best-use-of-my-face-to-face-class-time/; Saxena 2013 unter: http://edtechreview.in/trends-insights/insights/726-how-to-best-use-the-class-time-when-flipping-your-classroom)
Zu den Zielen dieses Konzeptes gehören:
Die Schülerinnen und Schüler eignen sich von der Lehrkraft (oder ggf. auch von anderen Lernenden oder Quellen) digital zur Verfügung gestellte Inhalte asynchron und selbstgesteuert an. Dazu wählen sie sowohl den Ort (Zuhause, in der Schule, in öffentlichen Verkehrsmitteln, bei Freunden etc.) als auch die Zeit und Sozialform aus (innerhalb der Lernzeit an der Schule, zu gewohnten Lernzeiten individuell Zuhause oder in verabredeten Lerngemeinschaften z.B. am Wochenende etc.). Lernende, denen Zuhause keine angemessene digitale Lernumgebung zur Verfügung steht, müssen die Möglichkeit erhalten, dies in der Schule zu tun. Schulen, an denen Aufgaben für Zuhause nicht mehr erteilt werden, bieten entsprechende digitale Lernumgebungen und -zeiten in der Schule an. Es bleibt den Schülerinnen und Schülern auf Grund des unterschiedlichen individuellen Lerntempos selbst überlassen, wie oft sie das digitale Material anhören (Audio Podcast) oder schauen (z.B. Erklärvideos, Präsentionen/Vorträge oder Video-Tutorials) und/oder ob sie zwischenzeitlich stoppen, schrittweise zurückgehen und/oder voranschreiten. Begleitend erhalten die Lernenden in jedem Fall Unterstützung: Diese kann analog (Arbeitsblatt) oder online (z.B. Online Quiz, ggf. mit Stopp-funktion) zur Verfügung stehen. Zusätzlich kann bei Bedarf ein Forum mit peers oder der Lehrkraft angelegt sein. Für die gesamte Online-Arbeitsphase werden für Einsteiger ca. 20-30 Minuten eingeplant, wobei für das erklärende Element ca. 3-6 Minuten vorgesehen sind.
Tipp:
Lehrwerksunabhängig bietet der British Council unter LearnEnglishTeens englischsprachige ‚Grammar snacks‘ an (http://learnenglishteens.britishcouncil.org/grammar-vocabulary/grammar-videos). Kurze Grammar videos führen in einen Kontext ein und bilden den Start einer Reihe von weiterführenden Aufgaben: wie einen fiktiven Dialog, der die wichtigsten Aspekte der jeweiligen Grammatik nochmals aufgreift; schwierigkeitsgestufte Übungen und die Möglichkeit zur Interaktion mit der Redaktion mittels online discussion, die wiederum kontextgebunden ist und den Transfer der Grammatik in die Alltagskommunikation der Teilnehmer herstellt (Beispiel discussion/comment passive: Tell us about a film that you like. When and where was it made? Was it based on a true story or a book?). Sämtliche Materialien (transcript of film/worksheets/answers) stehen als Download zur Verfügung.
Der (individuelle wie kollaborative) Lernprozess der Schülerinnen und Schüler hängt auch bei diesem Konzept von verschiedenen Faktoren ab: vom online zur Verfügung gestellten Material, von der Lehrkraft, dem bzw. der individuellen Lernenden, der Lerngruppe und den begleitenden Aktivitäten, Aufgaben und Unterstützungssystemen. Folgende Fragen stehen dabei u. A. im Vordergrund:
a. bezogen auf das Onlinematerial:
b. bezogen auf den/die Lernenden, die Lerngruppe und die Lehrkraft:
c. bezogen auf die begleitenden Aktivitäten:
Um die Lernenden schrittweise an die zunehmend selbstständige Beschäftigung mit dem digital aufbereiteten Material heranzuführen, bietet es sich an, die nachfolgenden verbreiteten Formate in der hier vorgegebene Reihenfolge einzuführen.
1. ‚in-class-flipped‘ – Format: Die Schülerinnen und Schüler schauen/hören ein Audio/Podcast/Video etc. während/nach Beendigung einer Aufgabe/Einheit im Unterricht und nutzen die Inhalte für die Aufgabenerfüllung/gleichen sie mit ihren Ergebnissen ab bzw. erfahren mehr darüber.
Beispiel: Klasse 5 Thema: Birthday party (Schüler sprechen über Geburtstagswünsche)(Filmfokus: Aussprache)
Die Schülerinnen und Schüler beschreiben zum Thema birthday ein Bild, hören Geburtstagsgeschenke aus einem Lied heraus und befragen sich abschließend gegenseitig nach ihren Wünschen. Sie lernen dabei anhand eines Trainingsvideos kontextgebunden, wie die th-Laute ausgesprochen werden. Das Trainingsvideo wird erstmals im Unterricht eingeführt, um Schülerinnen und Schüler an die Nutzung von Erklärvideos heranzuführen. Die letzte Phase der Unterrichtseinheit dient dem weiteren Üben der th-Laute mittels Zungenbrecher (language focus), die dann im Kontext eines Aussprachewettbewerbes wiederum im Plenum vorgetragen werden. Hier arbeiten die Schüler kooperativ und schwierigkeitsgestuft (nach eigenem Ermessen). Diese Phase kann die Lehrkraft ‚auslagern‘, um der Heterogenität der Lerngruppe (Lerntempo, Sozialform, Leistungsniveau) entgegenzukommen. Die Schülerinnen und Schüler können sowohl Zuhause als auch in der Schule (individuelle Lernzeit) an den Zungenbrechern (weiter)arbeiten und sich dazu das Trainingsvideo anschauen, so oft wie sie es benötigen.
(vollständiger Artikel inklusive Videos, Lied und Arbeitsblätter: Knopp, Bettina (2018): Samantha’s Birthday. In: Englisch 5-10. Heft 41/2018, S. 4-8. Seelze: Friedrich) Siehe auch: https://www.friedrich-verlag.de/shop/pronunciation-heft
Beispiel: Klasse 8 Thema: Teen life in the US (Lernende tauschen sich über ihre Erfahrungen, Vorlieben und Abneigungen aus und benutzen dabei das Gerund - as subject or object/in phrases/in talks about likes and dislikes) (Filmfokus: Grammatik)
Die Schülerinnen und Schüler erarbeiten im Unterricht kontextgebunden den Gebrauch und die Bildung des Gerund. Als Hausaufgabe oder in der individuellen Lernzeit lösen sie eine Aufgabe im Workbook passend zur grammatischen Erscheinung. Ein Erklärvideo steht ihnen dabei zur Verfügung. In deutscher Sprache werden die Bildung und der Gebrauch passend zum Kontext erklärt und mit einigen Beispielen belegt. Als Alternative zur Differenzierung nach oben bietet sich die Erklärung auf Englisch an.
Quelle: Green Line 4 – Workbook Übungssoftware – Gerund
2. ‚half flipped‘-Format: Nach dem Unterricht/während der Bearbeitung komplexer Lernaufgaben erhalten die Lerner digital Unterstützung bei der Aufgabenlösung, indem Hinweise zur schrittweisen Umsetzung und zu Lösungswegen an schwierigen Stellen gegeben werden. Dies bietet sich vor allem beim Konzept des task-based language learning an.
Beispiel: Klasse 9/10 Thema: English for work and life – eine berufsorientierte Kompetenzaufgabe (Lernende bewerben sich um einen Praktikumsplatz im Ausland) (Filmfokus: Vorstellungsgespräch)
Bei dieser komplexen Kompetenzaufgabe recherchieren Schülerinnen und Schüler anhand einer vorher erstellten persönlichen Stärken-Schwächenanalyse oder eines Interessenprofils passende Praktikumsplätze, verfassen eine Bewerbung mit Lebenslauf und bestreiten ein Vorstellungsgespräch, verfassen einen Kurzbericht über das Praktikum und führen abschließend eine Pro-Contra-Diskussion zu Praktika im Ausland durch (zum vollständigen Unterrichtsentwurf inklusive aller Materialien siehe Haß/Kuty 2012, S. 156 ff). Den Lernenden stehen für ihre zumeist selbstständige Tätigkeit unterschiedliche Unterstützungssysteme zur Verfügung: Beispiele zu englischsprachigen Jobangeboten, Bewerbungen auf Englisch, Redemitteln und Evaluationsbögen. (Mehr zum generischen Lernen unter https://www.friedrich-verlag.de/shop/downloads/dl/file/id/34799/product/4785/inhaltsverzeichnis.pdf)
Im Zuge des flipped classroom-Konzeptes nutzen die Lernenden auch Kurzfilme, insbesondere zum Vorstellungsgespräch. Diese sind entweder lehrwerksbegleitend erstellt (Klett DVD Jobs in Action) oder finden sich lehrwerksunabhängig z.B. in Schulfernsehserien (WDR-Schulfernsehserie Flirt English: https://www.planet-schule.de/wissenspool/flirt-english/inhalt/unterricht-1-staffel-2016.html).
Die Schüler nutzen diese Filme, um sich auf das Vorstellungsgespräch vorzubereiten. Evaluationsbögen unterstützen sie darin, wichtige Kriterien bereits im Vorfeld zu erkennen. Die Filme können zunächst allein angesehen werden, um dann kooperativ die wichtigsten Aspekte herauszuarbeiten.
3. ‚flipped‘ – Format: Die Lernenden eignen sich den Inhalt vorbereitend zur nächsten Stunde an und werden durch Aufgaben und Scaffolding unterstützt.
Beispiel: Klasse 7 Thema: Introduction to Scotland (Lernende verstehen und geben Informationen über Schottland weiter) (Filmfokus: Landeskunde)
Die Schülerinnen und Schüler schauen sich ein kurzes Video über Schottland (01:23) in Vorbereitung auf die nächste Englischstunde an und lösen ein Quiz dazu (multiple choice – geschlossenes Format). Die Fragen im Quiz beziehen sich nicht nur auf die gesprochenen, sondern vor allem auf die visuellen Impulse im Video. Je nach technischer Ausstattung an der Schule vergleichen die Schülerinnen und Schüler ihre Antworten untereinander auf der schulinternen Lernplattform. Die Lehrkraft bezieht die Ergebnisse des Quiz in die folgende Unterrichtsstunde ein, indem z. B. alle wichtigen Informationen aus dem Quiz an der Tafel gesammelt werden und der damit ggf. neue Wortschatz aufgegriffen wird. Anschließend lesen die Lernenden Textpassagen über Schottland (im Lehrbuch) und ergänzen in kooperativer Arbeitsweise die bereits vorhandenen Informationen an der Tafel. Sie hören ein Interview und sind am Ende der Unterrichtstunde in der Lage, eigene Sätze über Schottland zu formulieren.
(Videos und Materialien siehe: Klett Blue Line / Red Line /Orange Line 3 – Lehrwerk Unit 3: Made in Scotland – Way in; Seiten 52-53; Film on DVD Action UK! Filmsequenz 5)
4. Eine Kombination aus verschiedenen Formaten ist ebenfalls möglich.
Beispiel: Klasse 8 Thema: Across Cultures- differences between British, American, Canadian English and formal /informal register (Lernende erkennen die Unterschiede in Schreibung/Aussprache BE-AE-CE und erstellen einen formalen fiktiven Dialog) (Filmfoki: varieties of English and register differences)
Die Schülerinnen und Schüler finden vor dem Unterricht heraus, worin die Unterschiede (Schreibung und Aussprache) zwischen British, American und Canadian English liegen. Sie schauen sich dazu individuell den ersten Teil des Filmes an und bearbeiten die Aufgaben im Lehrbuch (Green Line 4, Seite 76/ 2 a und b) (Klett Green Line 4, DVD Action USA: What you say and how you say it). In der Präsenzphase/im Englischunterricht vergleichen die Schülerinnen und Schüler ihre Ergebnisse partner-/gruppenweise und ergänzen ihre Tabellen. Sie üben im Unterricht die unterschiedlichen Ausspracheformen durch Lesen eines Textes mit verteilten Rollen (amerikanischer, britischer, kanadischer, deutscher etc. Schüler). Anschließend erhalten sie die komplexere Aufgabe, kooperativ ein (eher) formales Gespräch mit einem/einer Lehrer/in an einer High School zu simulieren. Als Orientierung dienen den Lernenden der zweite Teil des Filmes und Aufgaben aus dem Lehrwerk (u.a. Heraushören wichtiger Parameter für eine formale Konversation, Einordnung sprachlicher Mittel in ein Register oder die Umwandlung eines informellen Dialogs in ein eher formales Gespräch). Da der zweite Teil des Filmes anspruchsvoller ist, bietet es sich an, diesen in die Bearbeitung der komplexen Aufgabe zu integrieren, sodass die Schüler kooperativ und ggf. im Plenum darüber sprechen können.
(Videos und Materialien: Klett Green Line 4 – AC3 Across Cultures, Lehrbuch Seiten 76/77; Digitaler Unterrichtsassistent, Video What to say and how you say it)
Die Lernenden werden im Englischunterricht auf das Thema eingestimmt. Dazu kann Vorwissen, z.B. in Form von wichtigem Wortschatz aktiviert und/oder Fragen aufgeworfen werden, die mit der Thematik verbunden sind. Zudem wird unmittelbar nach Bearbeitung des Podcast, Videos oder der Präsentation ein Ausblick auf den weiterführenden Englischunterricht zur Thematik gegeben.
Die Phasierung des Selbstlernens folgt idealtypisch folgender Grundstruktur:
Für alle Phasen stehen den Lernenden Scaffolding-Angebote zur Verfügung, die sie jederzeit während des Arbeitsprozesses aufrufen können. So können die Schülerinnen und Schüler z.B. das Video jederzeit stoppen um zurück zu gehen und/oder unbekanntes Sprachmaterial online nachzuschlagen. Parallel können sie auf dem Bildschirm oder analog die Quizfragen ansehen, den Podcast stoppen und die entsprechende Aufgabe lösen. Bei online quizzes wird sogleich angezeigt, ob die Lösung richtig oder falsch ist und im letzteren Falle zum erneuten Anschauen animiert, ggf. mit einem Hinweis dazu. In den Think/Dig deeper Phasen erhalten die Lernenden zunächst die Wahl, ob sie mit den Inhalten des Videos weiterarbeiten oder zusätzliches Material, z.B. in Form eines Textes oder Hyperlinks, bearbeiten möchten. Die angebotenen Aufgaben sind schwierigkeitsgestuft aufgebaut, sodass die Lernenden auch hier das Niveau wählen und jederzeit ändern können. Im (z.B. offenen) Diskussionsforum erfolgt dann - sowohl für den Lernenden als auch die Lehrkraft nachvollziehbar - die Reflexion über den Lernprozess.
Zusammenfassend ließen sich drei wichtige Aspekte herausfiltern:
Die Gestaltung der Präsenzphase wird an das Konzept des flipped/inverted classroom angepasst, d.h. sie muss sich verändern, um das volle Potenzial des Konzeptes wirklich zu unterstützen. Die Lehrkraft nutzt die Online-Aktivitäten der Schülerinnen und Schüler als Diagnoseinstrumente für die Planung und differenzierte Ausgestaltung des nachfolgenden Präsenzunterrichts. Da im Englischunterricht nunmehr mehr Zeit zum Üben und Anwenden vorhanden ist, kann die Lehrkraft ganz konkrete Problemfelder aufgreifen und auf einzelnen Schüler(gruppen) individueller eingehen, z. B. durch unterschiedliche Angebote. Zudem können im Vorfeld kooperative Lernphasen besser abgestimmt werden. Dies ermöglicht es den Lernenden, das außerhalb des Unterrichts Erlernte in – je nach Zielstellung des Englischunterrichts - unterschiedlichen Zusammensetzungen weiter zu vertiefen und zu üben. Zusammenfassend bieten sich folgende Aspekte im gemeinsamen Englischunterricht an:
Studien zur Rolle des Lehrers in mediengestützten Lernumgebungen belegen die Vermutungen vieler Lehrkräfte, dass sich nicht nur die gewohnte ‚Lehr‘umgebung (der Unterrichtsraum als geschlossenes System für die Lehrkraft), sondern auch die gewohnten (oftmals in der Ausbildung antrainierten) Vorgehensweisen und das Rollenverständnis ändern:
The instructor must give up the control of a… lecture and be open to spontaneous demands of the students…Flipping the classroom requires that the instructor starts with the end in mind, asking questions like: Where do you want to lead the students? What, “exactly,” do you want your student to be able to do or know? (Roger and Tingerthal, 2013)
In ihren Studien konstatieren sie, dass in dieser mediengestützten Lernumgebung die Lehrkraft fähig sein muss:
to give up the flow of the work…to remain nimble and flexible enough to take the class in new directions when interest flags…to be prepared to offer additional mini lectures or demonstrations (or even perform without preparation)…to give up (white) board and teach by walking around…to reduce distance between students and teacher to achieve better learning outcome…to provide real-time (individual) feedback and assistance…
(http://ascpro0.ascweb.org/archives/cd/2013/paper/CEUE40002013.pdf)
Laut der JIM- Studie 2017 (https://www.mpfs.de/fileadmin/files/Studien/JIM/2017/JIM_2017.pdf) nutzen 13 % der Schülerinnen und Schüler täglich bzw. mehrfach in der Woche Erklärvideos für Themen aus der Schule. Auch Lehrkräfte nutzen Erklärvideos als informelle Weiterbildung. Sie informieren sich darüber, wie andere Lehrkräfte eine Thematik einführen bzw. erklären und welche auch mediengestalterischen Anregungen für die eigene Arbeit daraus entnommen werden können (Wolf 2018, S. 4 ff). Daher lohnt es sich, diese Art des Online-Lernens näher in den Fokus zu rücken.
Verschiedene Studien aus der Psychologie und den Fachdidaktiken (vgl. Kulgemeyer 2018, 11ff.) zeigen auf, dass gutes Erklären nur erfolgreich sein kann, wenn die Bedürfnisse der Adressaten aufgegriffen und wenn Interaktionen zwischen Erklärenden und Lernenden ermöglicht werden. Die Konstruktion von Wissen ist ein hochkomplexer und individueller Prozess, weshalb es ‚die‘ ideale Erklärung weder im sog. Frontalunterricht noch in Erklärvideos gibt. Gutes Erklären kann jedoch die Grundlage dafür bilden, selbst Bedeutungen zu konstruieren. Für den Einsatz von Erklärvideos bedeutet dies, dass unbedingt (vertiefende) Aufgaben zur Verfügung gestellt werden, die eine intensive und individuelle Auseinandersetzung mit dem Inhalt erfordern. Sie ermöglichen zudem eine Diagnose von Schülerproblemen, die dann in der Präsenzphase durch die Lehrkraft aufgegriffen werden müssen.
Gute Erklärvideos (vgl. ebd., 10ff.):
Die Angebote an Tools zum Erstellen von Erklärvideos sind sehr umfangreich (z.B. http://www.flippedclassroomworkshop.com/8-great-free-flipped-teaching-resources). Zahlreiche Podcasts/Videos finden sich bereits auf verschiedenen Internetportalen. Sie bieten dem Lehrenden zunächst einen Einblick in verschiedene Darstellungsmöglichkeiten wie Screen oder Slide cast, Lege-Technik, Tafel/Whiteboardanschrift, Trickfilm-Technik, Zeitraffer-Technik oder Green-Screen-Technik (kurze Erklärungen dazu unter http://www.bimsev.de/n/userfiles/downloads/gute-lernvideos.pdf)
Neben der Entscheidung für den Inhalt und die sprachliche Gestaltung (siehe oben) und für eine altersgemäße Videoart gilt es vor allem, im Film eine informative Geschichte zu erzählen, die passende und anschauliche Visualisierung anzubieten, nur wenige Personen zu involvieren, jegliche Ablenkung zu vermeiden und gern auch Unterhaltungselemente vorzusehen, um die Motivation, Lernfreude und Konzentrationsfähigkeit aufrecht zu erhalten. Zudem lassen sich Verbindungen zum Unterrichtsmaterial, mit dem die Lernenden arbeiten, herstellen.
Wie bei jedem (anderen) Konzept (auch) müssen Stolpersteine bewusst wahrgenommen, reflektiert und bei der Planung mit bedacht werden. Zu den wichtigsten gehören:
1. Die Lernenden schauen die Lernfilme nicht und kommen unvorbereitet in den Präsenzunterricht. Schülerinnen und Schüler, die die Aufgaben erfüllt haben, sind demotiviert, wenn nunmehr der gesamte Inhalt nochmals erarbeitet wird.
Tipp: Diese Art des Lernens ist für Lernende ungewohnt. Schrittweise müssen sie an dieses Konzept herangeführt werden. So können die online angebotenen Materialien zunächst im Englischunterricht gemeinsam angeschaut/gehört und bearbeitet werden. Zudem kann es helfen, bereits im Vorfeld Lerngemeinschaften zu bilden, damit einzelne Schülerinnen und Schüler nicht verloren gehen. Wichtig auch: mit den Schülerinnen und Schülern über das Selbstlernen sprechen, Erfahrungen austauschen und Hinweise zu Selbstlernstrategien mit der Lerngruppe zusammentragen.
2. Die Lernenden verfügen über ungleiche technische Voraussetzungen; das kann zu Benachteiligungen einzelner Schülerinnen und Schüler führen.
Tipp: Schülerinnen und Schüler müssen die Möglichkeit erhalten, Lernfilme innerhalb ihrer regulären Schulzeit anzuschauen, z.B. in der individuellen Lernzeit. Zudem kann ein ‚Buddy‘-System helfen, sich gegenseitig zu unterstützen und zugleich den technischen Nachteil auch außerhalb der Schulzeit auszugleichen.
3. Lehrende verwenden viel Zeit für die Konzeption und Produktion der Filme, dadurch bleibt weniger Zeit für die Gestaltung der Lernumgebung (Scaffolding, begleitende Aufgaben).
Tipp: Auch als Lehrkraft klein anfangen: zunächst passende bereits vorhandene Videos/Podcast/Dokumentationen etc. nutzen (siehe dazu z. B. Bewertungskriterien für gute Erklärvideos) und zunächst analoges begleitendes Material anbieten. Nicht in jeder Klasse gleichzeitig starten.
4. Anders als bei der Einführung einer Thematik im gemeinsamen Englischunterricht gibt es bei diesem Konzept zunächst keine Möglichkeit zur direkten mündlichen Nachfrage für die Schülerinnen und Schüler.
Tipp: Lernende schon frühzeitig an die Kommentar-/Blogfunktion heranführen und sie dazu motivieren, ihre Fragen dort auch zu artikulieren (ACHTUNG: bewertungsfreie Zone!). Als Lehrkraft aufzeigen, dass man die Fragen und Probleme dort wahrgenommen hat, indem sie – ggf. anonymisiert – in die Präsenzphase integriert und mit allen Schülerinnen und Schülern besprochen werden.
5. Der ‚Input‘ in den Lernfilmen/Hörtexten etc. erfolgt nur durch eine (Lehr)Person. Andere Sichtweisen, ggf. auch der Lernenden, werden nicht eingebunden.
Tipp: Die Strukturelemente Dig deeper und Discuss innerhalb des Konzeptes (siehe oben) bieten den Raum für die individuelle Auseinandersetzung mit der Thematik. Spannende Ergebnisse aus diesen Bereichen werden in die Präsenzphase überführt und können kontroverse und vielfältige Perspektiven aufzeigen sowie weiterführende Aktivitäten initiieren.
Lernende selbst können kurze Filme erstellen; sie tun das in verschiedenen anderen Kontexten auch schon (oftmals hoch motiviert). Dies kann jedoch erst gelingen, wenn sie mit dem ‚flipped‘-Lernformat vertraut sind und dieses als einen Gewinn für ihr Lernen erleben. Wie Filme entstehen, haben sie bereits im Englisch- oder anderen Fachunterricht erfahren (synopsis, script, storyboard, film, film cut etc. ). Hier nun gilt es, die Spezifik von Erklärvideos zu erkennen. Dazu analysieren die Lernenden zunächst ihnen bekannte (gute oder schlechte) Erklärfilme und finden heraus, was einen erfolgreichen Lernfilm ausmacht (Thema strukturiert dargeboten; einfache Sprache; kurze Sätze mit je nur einer Information; Bild und Sprache als Einheit; Pausengestaltung zum Nachdenken oder Stoppen; Fragen und/oder ggf. Aufforderungen an die Adressaten etc.)
Mehr zur Erarbeitung von Erklärvideos mit Schülern unter: https://www.medienpaedagogik-praxis.de/2013/03/11/was-ist-ein-gutes-lernvideo/
Im Zuge des Konzeptes ‚Lernen durch Lehren‘ (http://www.ldl.de/) erstellen sie jedoch nicht nur das Videomaterial, sondern auch die Aufgaben und Unterstützungssysteme. Die Lehrkraft unterstützt die Schüler dabei. So wäre es vorstellbar, dass die Schüler am Anfang einen thematischen oder sprachlichen Aspekt aus dem Lehrwerk, mit dem sie arbeiten, für ihre Mitschüler aufbereiten. Auf einem erhöhten Niveau könnten dann (vom Lehrwerk) unabhängigere Themen und/oder sprachliche Phänomene, die sich immer wieder als ‚Baustelle‘ erweisen, aufgegriffen werden. Letztlich könnte sogar eine Sammlung und ggf. Datenbank mit Erklärvideos ‚peers to peers‘ an der Schule im geschützten digitalen Raum entstehen und ‚erfahrene‘ Schülerinnen und Schüler ‚jüngere‘ Lernende digital beim Lernen unterstützen, indem sie für ihre Lerneinheit verantwortlich zeichnen und auf Kommentare, Nachfragen und Blogeinträge ihrer ‚jüngeren’ peers angemessen reagieren.
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