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Lehrkraft zweiter Wahl?

(sl) Das Angebot klingt verlockend – Seiteneinstieg ins Lehramt. Doch längst nicht alle sind dafür geeignet. Sich selbst rechtzeitig zu hinterfragen, trägt dazu bei, eigene Enttäuschung und die künftiger Kolleg:innen zu vermeiden.

Der Gedanke blitzte immer wieder einmal auf: Wäre eine Aufgabe als Lehrer vielleicht doch das Richtige für mich? Michael Stage ist das Schulwesen mehr als vertraut. 13 Jahre lang begleitete er im Auftrag der Deutschen Kinder- und Jugendstiftung Schulen auf ihrem Weg der Schulentwicklung. Er leitete unter anderem die Serviceagentur „Ganztag“ in Sachsen-Anhalt und die Servicestelle „Schule macht stark“.

Er verfügt über zahllose Kontakte, ist vernetzt und kennt die Anforderungen des Lehramtsberufs. Doch vor einer Klasse stand der 42-Jährige noch nie. Das aber ändert sich gerade. Denn er hat sich entschieden, als Seiteneinsteiger die Seiten zu wechseln. Künftig berät er nicht mehr Schulleitungen und Lehrkräfte, organisiert keine Fortbildungen, Pädagogischen Tage und Kongresse mehr für sie. Er wechselt ins Kollegium der Gemeinschaftsschule Ernst Wille in Magdeburg.

Vor- und Nachteile abwägen

In seinem Freundeskreis wurden durchaus Stimmen laut, die mahnten und fragten: „Willst Du Dir das wirklich antun?“ Michael Stage nahm die Frage ernst, die Vorbehalte gegenüber diesem Beruf negierte er nicht. Viel Stress, eine hohe Geräuschbelastung, die Notwendigkeit, sich mit vielen Zielgruppen auseinanderzusetzen – angefangen bei den Schüler:innen, den Kolleg:innen, den Arbeitgebenden und, nicht zu unterschätzen, den Eltern.

Doch all diese Bedenken konnten eine Erkenntnis und Sicherheit in ihm nicht auslöschen: „Nach 13 Jahren anspruchsvoller und erfüllender Arbeit möchte ich aus meiner Komfortzone ausbrechen, mir eine neue Herausforderung suchen und eine Aufgabe übernehmen, in der Kinder die Dreh- und Angelpunkte darstellen.“ Der mitunter dramatisch hohe Lehrkräftemangel und die damit verbundene Suche der Bildungsministerien aller Bundesländer nach Seiteneinsteiger:innen präsentierte ihm die Chance geradezu auf dem Silbertablett. Michael Stage griff zu.

Mehr als ein Notnagel?

Aktuell bereitet sich der gelernte Bankkaufmann gemeinsam mit vielen anderen auf die neue Aufgabe vor. Die vierwöchige Grundlagenfortbildung inkl. einwöchiger integrierter Praxiswoche soll den künftigen Lehrkräften das notwendige Rüstzeug mit auf den Weg geben. Doch zunächst galt es die eigenen Fragen zu beantworten: „Meine ich es wirklich ernst mit diesem Wunsch? Komme ich dauerhaft mit Schüler:innen zurecht? Schaffe ich es, meine Freude an einer Beziehung zu ihnen über einen langen Zeitraum aufrecht zu erhalten? Wie verhalte ich mich, wenn ich mal einen schlechten Tag erwische? Wie gehe ich mit herausfordernden Momenten um?“, lauteten einige seiner Gedanken. Er kam zu positiven Ergebnissen.

Doch noch eine Frage tauchte am Horizont auf: Werden mich alle jene Menschen, mit denen ich automatisch in Kontakt stehen werde, akzeptieren? Werden sie in mir mehr als eine Notlösung gegen den drohenden Unterrichtsausfall sehen oder doch als mehr oder weniger schlechten Kompromiss? Er sprach mit anderen, die diesen Weg bereits gewählt hatten. Er erfuhr, dass die Schüler:innen zumeist keinen Unterschied zwischen grundständig ausgebildeter Lehrkraft und Seiteneinsteigende machen. In den Kollegien sind die Reaktionen geteilter, wurde ihm berichtet. Viele wissen demnach zu schätzen, was Seiteneinsteiger:innen an Lebens- und Berufserfahrung mitbringen. Sie sind offen für andere Professionen. Doch er nahm auch zur Kenntnis, dass es die negativere Einstellung ebenso in den Schulen gibt: „Wir benötigen keine Lehrkräfte dritter Klasse.“

Erkunden, wie Schulen „ticken“

Michael Stage hat sich entschieden, optimistisch in den neuen Job zu gehen. Er vertraut sich selbst und seinen Fähigkeiten – insbesondere auch zur Kommunikation. Er ist bereit, andere um Unterstützung zu bitten, sie und ihre Erfahrung zu schätzen. „Ich habe keine Angst vor Schule und keine davor, als Notnagel angesehen und entsprechend behandelt zu werden“, sagt er. Er hofft, dass er als Mensch gesehen wird, der Lust und Freude auf diese Herausforderung hat, der bereit ist, sich in den Dienst der gemeinsamen Aufgabe zu stellen, Kindern die Freude am Lernen zu bescheren und sie auf das Leben vorzubereiten. Er wünscht sich daher für sich und andere Seiteneinsteiger:innen, dass ihnen Zeit gegeben wird und „wir nicht in Schubladen gesteckt werden, aus denen wir nicht mehr herauskommen.“

Er ist überzeugt davon, dass er selbst dafür etwas tun kann. „Die anderen müssen spüren, dass es mir ernst mit der Aufgabe ist und die Motivation nicht die Ferienzeiten waren“, meint er mit einem Augenzwinkern. Für ihn fing das schon damit an, dass er mit der Schule seiner Wahl frühzeitig in Kontakt kam. So ebnete er die Möglichkeit, sich gegenseitig kennenzulernen, auch zu spüren, wie die Schule „tickt“, wie sie zu Seiteneinsteiger:innen steht.

Gut vorbereitet an den Start gehen

Anderen, die seinem Weg folgen möchten, rät er, sich zunächst gut zu überlegen, welche Altersgruppe von Schüler:innen die richtige für sie ist – die Jüngeren in der Grundschule oder doch ältere? Wenn es die älteren Schüler:innen sein sollen, welche Schulform soll es sein? Gibt es diese in der Region? Kann ich mich dort vorstellen, eventuell sogar vorab einmal hospitieren? Für die, die sich unsicher sind, schlägt er als Beitrag zur Selbsteinschätzung vor, zum Beispiel erst einmal im Rahmen von einem Nachhilfeangebot, zum Beispiel im Ganztagsbereich einer Schule, Praxisluft zu schnuppern: „Dann kommt man nicht gänzlich unbeleckt von Erfahrung mit Schüler:innen in den Job und hat zudem vielleicht schon einige spätere Kolleg:innen kennengelernt.“

Michael Stage hat für sich im Vorfeld seiner Entscheidung eine pro- und contra-Liste erstellt. Eine mögliche ablehnende Haltung des späteren Kollegiums, der Umgang mit herausfordernden Schüler:innen und weniger Gehalt standen unter anderem auf der contra-Seite. Doch einen Plan B hat der Mann, der mit den Neigungsfächern Mathe, Wirtschaft und Sozialkunde in der Schule aufschlägt, zunächst aber nur Mathe unterrichten wird, nicht aufgestellt. Er ist sehr zuversichtlich, dass seine Entscheidung richtig ist. „Mir den Kopf über etwas anderes zu zerbrechen, würde mich nur verunsichern“, weiß er. Und mit großer Sicherheit, würden es die künftigen Kolleg:innen auch spüren…

Kompakt

Angesichts des dringenden Bedarfs an Seiteneinsteiger:innen fordert Maike Finnern, die Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, deren passgenaue Aus- und Weiterbildung. Außerdem müsse ihnen eine langfristige Perspektive angeboten werden: „Klar ist auch, dass eine anspruchsvolle berufsbegleitende Weiterbildung den Quer- und Seiteneinsteigenden einiges abverlangt. Dafür muss im Gegenzug bei erfolgreichem Abschluss der nötigen Weiterbildungen eine Anerkennung der Laufbahnbefähigung stehen, also eine Gleichstellung mit den grundständig ausgebildeten Lehrkräften.“ Auch den Zehntausenden, die bereits heute an den Schulen unterrichten, sollte die Möglichkeit eröffnet werden, nachträglich eine Laufbahnbefähigung zu erwerben, fordert die GEW-Chefin.