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Wenn die erste eigene Unterrichtseinheit naht…

(sl) Der „Bammel“ vor den ersten selbstständigen Minuten in einer Schulklasse befällt jede Lehrkraft. Solche, die via Seiteneinstieg in den Job kamen, häufig besonders intensiv. Zumal das Kollegium einen besonders aufmerksamen Blick auf die „ungelernte“ Kraft wirft.

Lucienne Raithel (42) ist eine vermeintlich „ungelernte“ Kraft. Die Mutter zweier Kinder (16 und 9 Jahre alt) hat Deutsch und Journalistik studiert. Ihr eigentliches Berufsziel lautete: Lektorin. Doch die Lage im Verlagswesen ließ sie nach Abschluss ihres Studiums 2002 schnell erkennen: Das wird wohl nichts. Trotz eines Volontariats bei einem Verlag. Also engagierte sich die Sächsin mit italienischen Wurzeln als Nachhilfelehrerin, suchte den Weg in die Erwachsenbildung (Englisch) und arbeitete mehrere Jahre als Außendienstlerin des Ernst Klett Verlages. „In dieser Zeit gewann ich viele Eindrücke von Schulen und davon, wie Lehrerinnen und Lehrer ticken“, erinnert sie sich. Es waren Kontakte und Einblicke, die sie nicht abschreckten. Im Gegenteil. „Ich empfand die Aufgabe stets als unglaublich spannend und vielfältig. Zumal man ja wirklich fast jede Minute mit Menschen zu tun hat“, erzählt sie. Mit Familie wurde die berufliche Entwicklung ins Marketing ihrer Heimatstadt und schließlich in eine Tätigkeit als Dozentin umgeleitet.

„Du kannst das“

Den wohl entscheidenden Impuls, es als Seiteneinsteigerin in der Schule zu wagen, gab schließlich eine Freundin, die selbst Gymnasiallehrerin ist: „Ich glaube, Du kannst das, und es werden aktuell viele zusätzliche Lehrkräfte gesucht“, erklärte diese. „Warum nicht?“, fragte sich Lucienne Raithel daraufhin und fand kein Argument, das dem Versuch entgegenstand. Rund fünf Jahre später weiß sie aber auch: „Der Gedanke an meine erste eigene Unterrichtsstunde in der Oberschule löste schon damals einerseits ein aufregendes Kribbeln im Bauch, zugleich aber auch eine gehörige Portion Respekt aus.“ Doch vor dieser ersten Einheit galt es die Hürde Bewerbung zu meistern. Doch die stellte für Lucienne „überraschenderweise“ kein Problem dar. Sie reichte ihre Unterlagen ein, stellte sich im Hosenanzug gekleidet („Seriöses Auftreten war ich ja als Außendienstlerin gewöhnt.“) vor und „hatte“ den Job. Sie könne am 1. März 2017 an der Friedensschule Plauen, einer Oberschule, beginnen, teilte ihr das Landesamt für Schule und Bildung in Zwickau per E-Mail mit.

Wertvoller Austausch mit Gleichgesinnten

Die Bedeutung, dass ihr Studienfach Deutsch „als erlerntes Unterrichtsfach“ anerkannt wurde, realisierte sie erst später. Wäre es anders gekommen, hätte sie berufsbegleitend noch einmal zwei Jahre die Uni besuchen und auf ein Gehalt verzichten müssen. Entsprechend empfiehlt sie heute allen, die sich ebenfalls mit dem Gedanken des Seiteneinstiegs beschäftigen: „Fragt genau nach, was anerkannt wird, welche Dinge Auswirkungen aufs Gehalt oder auch eine mögliche Verbeamtung haben.“ Zusätzlich absolvierte sie drei Monate lang eine pädagogische Zusatzausbildung über grund-legende Dinge des Unterrichts parallel zur Arbeit an der Friedensschule. Und sie ist dankbar für diese Zeit. „Wir waren ein kleines Team von Seiteneinsteigerinnen und -einsteigern, haben uns gegenseitig sehr geholfen, über alles geredet, uns Mut gemacht“, versichert sie. Weil sie erfahren hat, wie wichtig der Austausch unter Gleichgesinnten ist, möchte sie sich auf Instagram als „lehrerin_mittendrin“ gerne mit Seiteneinsteigerinnen und -einsteigern vernetzen.

Hohe Belastung in der Startphase

Mut und Ausdauer waren gerade in der Startphase erforderlich. Denn die einjährige, zwingend vorgeschriebene schulpraktische Ausbildung in Chemnitz stellte eine enorme Belastung dar. Der „normale" Referendar hat hierfür 1,5 Jahre Zeit und nur wenige Unterrichtsstunden in der Woche. Lucienne Raithel: „Seiteneinsteiger stemmen es quasi nebenbei.“ Für sie bedeutete das: 19 Stunden Unterricht, montags Ausbildung in Chemnitz (12 Stunden unterwegs), Vorbereitung des normalen Unterrichts, „Hausaufgaben" für Chemnitz und drei Lehrproben mit den entsprechenden Prüfungen. Mit einer Prise Selbstironie ergänzt sie: „Ach, ja, es gab auch noch Familie.“ Dankbar ist sie auch ihrer Mentorin Claudia Hänsel. Die Lehrerin der Friedensschule nahm sie unter ihre Fittiche. „Sie führte mich durch die heftige Einstiegsphase und fand auch schon einmal klare Worte“, weiß Lucienne Raithel. Sie fügt hinzu: „Wenn sie mir sagte, ich könne dieses oder jenes so nicht machen, das ginge schief, habe ich das niemals als persönlichen Angriff verstanden. Sie meinte es stets konstruktiv.“ So, wie es auch der Freundeskreis war. „Ich selbst war überzeugt, eine gute Lehrerin werden zu können. Mir war aber wichtig, zu hören, ob mir andere das auch zutrauen“, erzählt sie. Und so wurde der Seiteneinstieg ins Lehramt ein Dauerthema im Freundeskreis.

Eigene Fähigkeiten nicht unterschätzen

Dass es zu Beginn ihrer Lehrerinnentätigkeit auch Kolleginnen und Kollegen gab, die es weniger unterstützend meinten, verschweigt die 42-Jährige nicht. „Da ich aber selbst auch gelernt habe, den Mund aufzumachen, habe ich sie gefragt, ob sie sich ob des Lehrermangels Unterstützung von mir als Seiteneinsteigerin wünschten oder lieber weiter auf dem Zahnfleisch gehen wollten.“ Und auch das gibt sie Gleichgesinnten mit auf den Weg: „Unterschätzt Eure eigenen Fähigkeiten nicht, macht den Mund auf.“ Sie weiß, einige haben es nicht geschafft und sind in ihren Ursprungsjob zurückgekehrt. Sie selbst aber sieht nur Vorteile des Seiteneinstiegs. Wer einmal einen anderen Job ausgeübt habe, bringe ganz neue und andere Impulse mit ins Lehramt. Auch wenn es um die eigene Arbeit gehe. „Ich weiß die Vorzüge des Lehrerinnendaseins vielleicht besser zu schätzen als jemand, der seit der eigenen Schulzeit damit verbunden ist“, meint sie. Und denkt etwa an die Freiheit, die eigene Arbeit ein Stück weit selbst organisieren und Zeit einteilen zu können oder an die vielen unterrichtsfreien Wochen im Jahr. Sie betont: „Mal außerhalb des Systems Schule unterwegs gewesen zu sein, wirkt augenöffnend.“

Abschied vom Minutenplan

Ans Aufgeben dachte Lucienne Raithel auch nicht als es an die Vorbereitung und schließlich Durchführung der ersten Unterrichtseinheiten, anfangs jeweils nur wenige Minuten, ging. „Es war schon eine Mega-Aufgabe, den Ablauf einer Unterrichtseinheit genau zu planen, die Unterrichtsziele im Blick zu behalten und trotzdem noch Zeit für die Fragen der Schülerinnen und Schüler zu haben“, gesteht sie. Sie sei viel zu perfektionistisch gewesen und habe viel zu viel in eine Unterrichtseinheit packen wollen. „Der Minutenplan, der durch einen im Unterricht tickenden Wecker, kontrolliert wurde, ging nicht auf. Fast nie in den ersten drei Monaten“, erzählt Lucienne Raithel und fragt sich schmunzelnd: „Was habe ich da wohl meinen Schülerinnen und Schülern angetan?“ Heute weiß sie, als Lehrkraft muss man erst einmal ein Gefühl für die einem anvertrauten Kinder und Jugendlichen entwickeln.

Auf die Wahl der richtigen Schule achten

Wenn es um die Überlegung geht, den Seiteneinstieg zu wagen, empfiehlt Lucienne Raithel, für sich selbst genau zu prüfen, welche Altersstufe und Schulform infrage komme. Sie hatte sich früh auf die Oberschule, sprich den Weg zur Mittleren Reife festgelegt. „Der Gedanke, Schülerinnen und Schüler am Gymnasium aufs Abitur vorzubereiten, bereitete mir Bauchschmerzen. Das wäre mir eine Nummer zu groß“, erkannte sie. Und Grundschule? „Nein“, sagt die zweifache Mutter, „dafür sollte man meiner Meinung nach grundständig ausgebildet sein. Da sind so viel pädagogisches Gespür und Know-how gefragt und man trägt schließlich die Verantwortung für einen gelungen Start in die Schulzeit.“