Klett Akademie für Fremdsprachendidaktik

Literaturunterricht digital!

von Carola Surkamp

Durch die Digitalisierung sind neue Texte und Kommunikationsformen entstanden, die auch den fremdsprachlichen Literaturunterricht bereichern können. Multimodale Texte – also Texte, die Schriftsprache mit Bildern, Musik und Soundeffekten verbinden – schaffen Textzugänge für alle Lernenden und erleichtern die Rezeption in der Fremdsprache.

Für viele Schülerinnen und Schüler ist es zudem motivierend, im Internet weitere Informationen zu Texten aufzuspüren, etwas über das Leben von Autorinnen und Autoren zu erfahren, diese in Interviews auch als Personen kennenzulernen, an einer Lesung im virtuellen Raum teilzunehmen, eine Theateraufführung mitzuerleben oder eine Literaturverfilmung anzuschauen. Auch sprachlich produktiv können Lernende im Internet tätig werden, wenn sie auf Internetplattformen ihre Meinung zu einem Text mit anderen teilen, Reaktionen auf Texte von anderen kommentieren oder eigene kreative Produkte, z.B. auf fan fiction-Webseiten, einstellen.

Digitale Medien versprechen also ein erhebliches Potential, um zu einem lebendigen, auf Partizipation ausgerichteten Literaturunterricht beizutragen, der weit über die bloße Textrezeption im Klassenzimmer hinausgeht. Aus literaturdidaktischer Perspektive ergeben sich allerdings vor allem die folgenden Fragen:

  1. Wie kann der Einsatz von digitalen Medien das Lesen, Hören, Sehen und Verstehen literarischer Texte in der Fremdsprache anregen und unterstützen? Was ist der Mehrwert des Digitalen?
  2. Mit welchen digitalen Formaten lohnt sich eine Auseinandersetzung, für welche Ziele des Literaturunterrichts können sie verwendet werden und welche Methoden bieten sich dafür an?

Innerhalb der Klett-Akademie haben wir – ausgehend von einem weiten Literaturbegriff – herausgearbeitet, dass im Fremdsprachenunterricht die Entwicklung von Fähigkeiten, Fertigkeiten und Einstellungen in verschiedenen Bereichen erforderlich ist, damit die SuS zu kompetenten Rezipientinnen und Rezipienten von literarischen Texten werden:

Surkamp_Modell1

Motivational-attitudinale Dimension:

  • Motivation zum Lesen, Hören und Schauen fremdsprachiger Texte entwickeln
  • Eindrücke, Emotionen und Reaktionen zu literarischen Texten zum Ausdruck bringen
  • sich auf andere Perspektiven einlassen
  • textuelle Welten mit eigenen Erfahrungen verknüpfen

Ästhetisch-kognitive Dimension:

  • Leerstellen in literarischen Texten füllen
  • Hypothesen bilden und im Rezeptionsprozess überprüfen
  • ausgewählte ästhetische Mittel erkennen, benennen und deuten (close reading)
  • literarische Texte durch zusätzliche Quellen in ihren historischen/kulturellen Kontexten verorten (wide reading)

Sprachlich-diskursive Dimension:

  • schon vorhandenes sprachlich-diskursives Wissen im Rezeptionsprozess aktivieren
  • verschiedene Rezeptionsstrategien anwenden
  • Reaktionen zu Texten mündlich, schriftlich und anderweitig medial kommunizieren
  • sich an der Bedeutungsaushandlung mit anderen beteiligen
  • eigene literarische Texte in der Fremdsprache produzieren

Wie kann der Einsatz digitaler Technologien die Entwicklung dieser Teilkompetenzen unterstützen?

weitere Links dazu:
https://www.friedrich-verlag.de/shop/fachbuecher/fachunterricht-sekundarstufe/englischunterricht/literaturkompetenzen-englisch" target="_blank">https://www.friedrich-verlag.de/shop/fachbuecher/fachunterricht-sekundarstufe/englischunterricht/literaturkompetenzen-englisch

Mit digitalen Medien können die Möglichkeiten der literarischen Rezeption und Produktion erweitert werden. Unterschieden werden kann zwischen durch die Digitalisierung neu entstandenen literarischen Texten bzw. Genres (neue Medienformate) und Kommunikationsformen über Literatur, die durch digitale Medien eröffnet werden (digitale Kommunikationswege).

Surkamp_Modell2

Viele ursprünglich gedruckte literarische Texte sind mittlerweile auch in digitaler Form erhältlich, z.B. als E-books. Dies eröffnet neue Möglichkeiten für den Rezeptionsprozess und für Aufgabenformate während des Lesens. Die Lernenden können z.B.

  • Textpassagen hervorheben
  • elektronische Notizen anfertigen
  • zusätzliche sprachliche oder inhaltliche Informationen nutzen, die über Kommentare oder Links bereitgestellt werden
  • über die Volltextsuche den Text nach spezifischen Schlagwörtern durchsuchen (‘tag cloud method’), um z.B. herauszufinden, wie oft eine bestimmte Person im Mittelpunkt steht oder welche Perspektive vorherrscht (Who speaks and who thinks, feels and remembers? What does this tell us about the narrative perspective?)

Über audio-visuelle Formate wie Livestream-Lesungen (z.B. https://www.lovelybooks.de/lesung/), das Vorlesen von Kinderbüchern (z.B. http://www.storylineonline.net), die Inszenierung eines Dramas (z.B. https://www.digitaltheatreplus.com) oder eine Literaturverfilmung kann Literatur über verschiedene Sinne aufgenommen werden, was die Rezeption in der Fremdsprache unterstützt.

Zu vielen bekannten Kinder- und Jugendbüchern gibt es Apps, die Leserinnen und Leser durch Animationen zur aktiven Rezeption auffordern und motivationsfördernd wirken können (z.B. „Alice for iPad“, „Rules of Summer“ von Saun Tan oder die App „Reckless“ zur Spiegelwelt von Cornelia Funke).

Die Auseinandersetzung mit Textinhalten wird gefördert, wenn Lernende ausgehend von einem Primärtext andere Hypertexte im Internet aufspüren und deren Inhalte mit dem schon Rezipierten verknüpfen (z.B. in Form eines WebQuest). Das Internet eröffnet Lernenden Zugang zu vielfältigen Informationen über Autor*innen und ihre Werke, zu Hintergrundwissen in Form von Bildern, geschriebenen Texten, Audio- und Videodateien.

Schülerinnen und Schüler können auch eigene Hypertexte produzieren: Indem Lernende einen vorliegenden literarischen Text bzw. Ausschnitte davon annotieren und Verbindungen von einzelnen Wörtern bzw. Textpassagen zu Definitionen oder historischen und kulturellen Informationen herstellen oder eigene Interpretationen einfügen, beschäftigen sie sich mit der Kontextualisierung von Literatur, dem sog. wide reading, und konstruieren aktiv Bedeutung.

Entwicklungen in der digitalen Technologie haben neue literarische Genres hervorgebracht, wie z.B. die Interneterzählung „Inanimate Alice“ (https://inanimatealice.com) oder die App „To Be Or Not To Be“ von Ryan North. Diese Texte sind interaktiv, non-linear und multimodal, und sie laden Rezipientinnen und Rezipienten zu aktiven Handlungen ein, wie z.B. Fragen zu beantworten, an Spielen teilzunehmen, in eine Rolle zu schlüpfen oder das nächste Ereignis auszuwählen, um die Handlung voranzutreiben.

Eine Beschäftigung mit interactive fiction bietet folgendes Potential für den Fremdsprachenunterricht:

  • Texte in der Fremdsprache nicht nur zu lesen, sondern auch visuell und akustisch zu erfahren und zudem selbst tätig werden zu können, ist für viele Lernende motivierend. Es wird ein intensives Eintauchen in erzählte Welten ermöglicht.
  • Wenn Lernende aktiv Vermutungen darüber anstellen oder gar bestimmen müssen, wie eine Geschichte weitergeht, wird ihre Fähigkeit zur Hypothesenbildung im Rezeptionsprozess gefördert.
  • Schülerinnen und Schüler lernen neue Erzählweisen und ästhetische Mittel kennen, die sie in Bezug auf ihre Funktionen innerhalb einer Geschichte und auf ihre Wirkungen im Rezeptionsprozess untersuchen können.
  • Berücksichtigt man die produktive Dimension literarischer Kompetenz, können Lernende diese neuen Texte auch als Modellierungen für die Herstellung eigener digitaler Geschichten nutzen und selbst mit multimodalen Erzählformen experimentieren.

weitere Artikel dazu:
WebQuests im Literaturunterricht

Die digitale Technologie bietet ebenfalls Werkzeuge wie Webplattformen (z.B. www.spaghettibookclub.org), Online-Diskussionsgruppen oder Blogs und Vlogs, die im Literaturunterricht genutzt werden können, um:

  • kollaborativ zu lesen (vgl. Walker/White 2013, 51),
  • Leseerfahrungen (bzw. Hör- oder Hörseherfahrungen) miteinander zu teilen,
  • literarische Texte zu diskutieren,
  • Bedeutungen auszuhandeln,
  • eigene (analytische und/oder kreative) Antworten auf einen literarischen Text zu veröffentlichen (z.B. eine Internet-Rezension),
  • die Beiträge anderer zu kommentieren.

Fan fiction-Seiten (wie https://www.fanfiction.net oder https://archiveofourown.org) können sich in diesem Kontext als nützlich erweisen (vgl. Unsworth 2006):

  • Sie können als Ausgangspunkte für Diskussionen über literarische Texte dienen, da parallele Geschichten oder zusätzliche Episoden offenlegen, wie andere Rezipientinnen und Rezipienten eines Textes dessen Figuren und die Beziehungen der Figuren zueinander jeweils verstehen.
  • Sie können Modelltexte für Lernende bereitstellen, die sich aktiv und kreativ mit einem Ursprungstext auseinandersetzen und z.B. alternative Enden oder zusätzliche Szenen verfassen möchten. Dies dient auch dem close reading und fördert zudem Vorstellungskraft und Kreativität.
  • Sie ermöglichen die Veröffentlichung eigener Produkte und das Eintreten in einen Austausch mit anderen Fans, die auf die Produkte der Lernenden reagieren und diese kommentieren können.

Lazar (2008, 159) zufolge lässt die hohe Beteiligungsquote auf fan fiction-Seiten vermuten, dass diese Form des literarischen Outputs die Lesemotivation steigert, die Distanz zwischen literarischem Werk und seinen Rezipienten verringert und Interpretationshandlungen anstößt. Auch Schlachter (2013, 268) zufolge ist die peer group die für Jugendliche entscheidende Instanz der Lese- und Mediensozialisation: „Es ist mittlerweile auch empirisch belegt, dass durch die Anschlusskommunikation in der peer group die Lesemotivation, das Leseverhalten sowie die Lesekompetenz gestützt werden.“

Auch im digitalisierten Literaturunterricht benötigen Fremdsprachenlernende Unterstützungsmaßnahmen (scaffolding), z.B. um sich zunehmend selbstständig im Internet zu orientieren. Sie müssen lernen, wie sie Hypertext-Links am besten folgen und wie sie Internetressourcen kritisch evaluieren und nutzen können. Diese Fähigkeiten benötigen sie auch gerade dann, wenn sie selbst eigene Hypertexte produzieren sollen.
Lazar (2008, 160-162) schlägt ein für den Umgang mit digitalen Medien im Literaturunterricht schrittweises Vorgehen zur Arbeit mit Hypertexten und mit fan fiction vor, das hier anhand einiger Arbeitsblätter zu konkreten Aufgaben und mit Hinweisen für Lehrkräfte illustriert wird.
Um zu erfahren, was ein Hypertext ist, wie er aufgebaut ist, wie er funktioniert und was er leisten kann, können SuS zunächst auch nicht-digital arbeiten: Der zu bearbeitende Text wird auf einem großen Poster durch das Hinzufügen zusätzlicher Informationen in Form von weiteren Kurztexten oder Bildern annotiert und dadurch inhaltlich vertieft; mit Hilfe weiterer Visualisierungen wie z.B. Pfeilen werden Verbindungen zwischen den Einzeltexten deutlich gemacht.


 Arbeitsblatt Literatur digital Hypertext SuS (DOCX)
 Arbeitsblatt Literatur digital Hypertext L (DOCX)
 Arbeitsblatt Literatur digital Fanfiction SuS (DOCX)
 Arbeitsblatt Literatur digital Fanfiction L (DOCX)

Mithilfe digitaler Technologien können Fremdsprachenlernende sowohl ihre Textverstehenskompetenzen als auch ihre sprachlichen und kommunikativen Fähigkeiten sowie ihr Sprachbewusstsein weiterentwickeln. Ein digitalisierter Literaturunterricht ermöglicht vielfältige sprachliche und kulturelle Begegnungen der Lernenden mit Texten, Inszenierungen und Personen. Technologiegestütztes Lernen im fremdsprachlichen Literaturunterricht fördert aber nicht nur die Entwicklung literaturbezogener Kompetenzen, sondern trägt auch zur Ausbildung digitaler Medienkompetenzen bei (vgl. Walker/White 2013, 8f.) – und zwar in den Bereichen „Bedienen und Anwenden“, „Informieren und Recherchieren“, „Kommunizieren und Kooperieren“, „Produzieren und „Präsentieren“ sowie „Analysieren und Reflektieren“. Darüber hinaus kann Digitalisierung im Literaturunterricht das Bewusstsein der Lernenden dafür stärken, wie Technologien und das Internet auch literarische Praktiken beeinflussen und formen. So verändern sich z.B. die Rollen von Autorinnen und Autoren sowie von Rezipientinnen und Rezipienten durch digitale Medienformate und Partizipationsmöglichkeiten wesentlich (vgl. Lazar 2008, 160).

Zum Weiterlesen:

  • Lazar, Gilian (2008): Some Approaches to Literature, Language Teaching and the Internet. In: Fremdsprachen Lehren und Lernen 37, S. 154–163.
  • Leubner, Martin (2014): Digitale literale Medien. In: Volker Frederking/Axel Krommer/Thomas Möbius (Hrsg.): Digitale Medien im Deutschunterricht. Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, S. 185–212.
  • Unsworth, Len (2006): E-Literature for Children: Enhancing Digital Literacy Learning. London: Routledge.