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Kochen als kreative Form der Leseförderung

(sl) Noch lassen sich die Folgen der Corona-Pandemie auf die Bildungsfortschritte von Lernenden nur erahnen. Doch erste Erkenntnisse aus Hamburg verheißen nichts Gutes. Die Hansestadt registriert einen Anstieg der “Leseschwachen“ um zehn Prozent.

Die besorgniserregenden Zahlen nannte der Sprecher der Autorengruppe Bildungsbericht, Kai Maaz, im Rahmen des Kongresses „Risse in der Bildungsrepublik?!“ des Deutschen Gewerk-schaftsbundes. Maaz ist geschäftsführender Direktor des Leibniz-Instituts für Bildungsforschung und Bildungsinformation (DIPF). Wörtlich meinte er: „Das stellt eine besondereHer-ausforderung für die Lehrkräfte dar.“ Den Hinweis griff Julia Gajewski, Leiterin der Gesamtschule Bockmühle bei Essen, auf und verwies auf eine Erkenntnis aus der Corona-Zeit: „Wir brauchen deutlich kleinere Klassen.“ In den halbierten Lerngruppen der vergangenen Monate sei der Lernzuwachs fast verdoppelt worden. Was auch daran liege, dass die den Unterricht verhindernden Konflikte deutlich geringer ausgefallen seien. Außerdem habe man sich beispielsweise viel intensiver um die Lese- und Sprachförderung kümmern können.

Anlässe nutzen und schaffen

Julia Wagner ist engagierte Referendarin an einer Schule in Thüringen. Sie verzichtet auf die Nennung ihres vollständigen Namens, da sie an ihrer Schule ohnehin schon als „nervige, uner-fahrene, junge Neue“ gelte. Sie ist überzeugt: „Leseförderung bedarf kreativer Ideen, um diejenigen, die sich mit dem Lesen schwer tun und es deshalb versuchen, zu vermeiden, doch zu erreichen. Denn ohne Lesen drohen sie in der Schule und später im Leben den Anschluss zu verlieren.“ Doch wie sieht Kreativität für sie aus? Ihre Antwort klingt simpel: „Wir müssen Anlässe nutzen und ggf. schaffen, die die Kinder und Jugendlichen packen und bewegen. Wichtig sei nicht, was sie lesen, sondern, dass sie es tun.“ Halloween sei beispielsweise so ein stets aktueller und faszinierender Anlass. Einen solchen zu schaffen, bedeute etwa, einen „Promi“ als Lese-Botschafter:in in die Schule zu holen. Sie hält aber noch einen weiteren Hinweis, insbesondere für andere Referendar:innen, parat. „Wenn Ihr auch an einer Ganztagsschule arbeitet, nutzt die Möglichkeiten, die sich bei den Arbeitsgemeinschaften auftun“, meint sie. Sie selbst ist dort fündig geworden. Bei der Planung der AG`s sei auch über eine Art Kochkurs nachgedacht worden. In ihm sollten die Kinder zugleich an gesunde Ernährung und Nachhaltigkeit herangeführt werden. Julia gesteht: „Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Wer kochen will, muss auch ein Rezept lesen. Wer recherchieren möchte, wie Kartoffeln gekocht werden, der muss lesen. So funktioniert Lese- und Sprachförderung ganz nebenbei.“ Ein weiterer Tipp der künftigen Grundschullehrkraft: „Setzt auch Medien ein, die zum Alltag der Kinder gehören. Beispielsweise Apps.“ Ihre Anregung, nicht alle Lernenden mit dem gleichen Lesestoff zu konfrontieren, richtet sich nicht nur an andere Referendar:innen, sondern eher ans gesamte Kollegium: „Wir wissen doch aus eigener Schulerfahrung, dass sich nicht alle Kinder einer Jahrgangsstufe für die gleichen Inhalte interessieren. Geben wir ihnen also doch die Möglichkeit, im Unterricht unterschiedliche Lektüren zu nutzen.“ Sie fügt hinzu: „Das bedeutet etwas mehr Arbeit für uns. Erhöht aber auch die Erfolgsquote.“

Was Lesekompetenz fördert

Nicht nur sie empfindet es als Auftrag der Schule, zu übernehmen, was im Elternhaus immer weniger geschieht. Eine Vorlesestudie, die die Stiftung Lesen gemeinsam mit der Wochenzei-tung DIE ZEIT und der Deutsche Bahn Stiftung regelmäßig durchführt, kam 2019 zu dem Ergebnis, dass 32 Prozent der Zwei- bis Achtjährigen zuhause zu wenig vorgelesen wird. Julia Wagner: „Das müssen wir in der Grund-, aber auch jeder weiterführenden Schule auffangen, wenn wir unseren Beitrag zu mehr Bildungschancen für jedes einzelne Kind leisten möchten.“ Dabei sollten die Referendar:innen und Lehrkräfte möglichst einem Irrtum der Eltern nicht unterliegen. Diese verstehen Vieles nicht als Leseförderung. Dazu zählen: Bilder in einem Buch anschauen und Geschichten dazu erzählen; aus Zeitschriften und Comics vorlesen; ein Wimmelbuch ohne Text anschauen. Doch diese Aktivitäten zählen eindeutig zum Vorlesen und sind damit Bestandteil der Leseförderung. Auch Bücher, zu denen es digitale Lesestifte gibt, anschauen, Bilderbuch-Apps nutzen oder ein Märchen ohne Buch zu erzählen wertet die Wissenschaft als Tätigkeiten, die dem Vorlesen sehr ähnlich sind. „Ich finde, ich muss als Lehrkraft recherchieren, welche kreativen Möglichkeiten es für die jeweilige Altersstufen gibt, die Freude und Sicherheit am Lesen zu stärken.“, meint Julia Wagner.

Gesamtgesellschaftliche Aufgabe

Den Stellenwert der Leseförderung hob im Frühjahr 2021 anlässlich des „Welttag des Buches“ auch das Bayerische Staatsministerium für Unterricht und Kultus hervor. Kultusminister Michael Piazolo und Staatssekretärin Anna Stolz betonten: „Die Lesekompetenz, deren Förderung eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe darstellt, bleibt auch und gerade im digitalen Zeitalter der Schlüssel für schulischen und beruflichen Erfolg sowie für gesellschaftliche Teilhabe. Lesen ist Wissensvermittlung und ein Ausflug in die Welt der Fantasie. Beides hat auch im zweiten Jahr der Pandemie eine sehr große Bedeutung.“

Kompakt:
Am 19. November 2021 lädt die Stiftung Lesen wieder zum Vorlesefest in Deutschland ein. Im Aufruf dazu heißt es: Vorlesen verbindet: egal ob jung oder alt, analog oder digital, beim großen Auftritt oder in gemütlicher Atmosphäre. Für die Dauer einer Geschichte erleben Vorlesende und Zuhörende ein gemeinsames Abenteuer und teilen lustige, traurige und spannende Momente. Um dieses Miteinander zu feiern und der großen Sehnsucht nach einem Wiedersehen Rechnung zu tragen, lautet das diesjährige Motto „Freundschaft und Zusammenhalt".