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Lesen fördern heißt, für Geschichten zu begeistern

(imi) Wenn Kinder lesen, dann versinken sie in eine andere Welt. Sie fiebern mit, wenn es spannend wird. Sie seufzen erleichtert auf, wenn alles gut ausgegangen ist. Sie runzeln die Stirn, um die Handlungsstränge der Fantasy-Serie nachvollziehen zu können. Kurzum: Sie sind emotional beteiligt und hoch konzentriert. Was können Lehrkräfte tun, um Lust auf Lesen zu machen?

Wer Dr. Margitta Kuty diese Frage stellt, erfährt, dass das Lesen selbst nicht das Wichtige ist. „Es geht vielmehr um die Freude an Geschichten“. Die Wissenschaftlerin und Didaktikerin an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald ist überzeugt, dass Kinder und Jugendliche jeden Alters großes Interesse an Geschichten über Liebe, Freundschaft, Ehrlichkeit, Verrat, Abenteuer oder fremde Welten haben. Der Zugang dazu sei zunächst zweitrangig. Zuallererst sollte es in Schule und Unterricht darum gehen, die Leidenschaft für Geschichten zu wecken und am Lodern zu halten.

„Gerade wenn die Lerngruppen sehr heterogen sind, empfehle ich, nicht nur auf das gedruckte Wort zu schauen. Der Umgang mit Geschichten sollte unbedingt multimedial angelegt sein. Computerspiele, die es zu bestimmten Büchern gibt, können für lese-uninteressierte Kinder ein Leseanreiz sein, auch Hörbücher. Rollenspiele und Theaterstücke sind für lese-ungeübte Kinder eine gute Möglichkeit, sich nah am Text mit dem Inhalt zu befassen, zum Beispiel durch Zeichnen der Kulissen. Wer nicht so gut auswendig lernen kann, kann zum Beispiel soufflieren“.

Über das Buch hinaus denken

Dieser geweitete Blick über das Buch hinaus hat sicher auch die Stiftung Lesen dazu bewogen, den ersten Platz des Deutschen Lesepreises 2018 der Leiterin des Lese- und Theaterclubs "Turmgeflüster" (Fürstenfeldbruck), Christine Dietzinger, zuzusprechen. Der Verein widmet sich seit 2014 der literarischen und kulturellen Bildung von Kindern und Jugendlichen. Mit Theaterworkshops und Bildungsfahrten begeistert er Kinder ab zwölf Jahren für Literatur.

In der Begründung dafür, warum es die Stiftung Lesen überhaupt gibt, finden sich folgende schwer wiegende Sätze: „Lesefreude und Lesekompetenz sind zentrale Grundlagen für die Bildungsfähigkeit und damit für gesellschaftliche Teilhabe. Doch trotz großer Anstrengungen ist es um die Lesekompetenz in Deutschland noch immer nicht optimal bestellt. Leseförderung ist jedoch unabdingbar für eine funktionierende Gesellschaft.“ Die Klage der Buchhändler über zurückgehende Absatzzahlen stützt die These, dass immer weniger Menschen zum Buch greifen.

Rote Lounge-Sessel in der Bibliothek

Im Erwachsenenalter lässt sich dies noch mit der modernen Verdichtung von Aufgaben, der Entgrenzung von Arbeit und Freizeit und dem daraus resultierenden Gefühl des permanenten Zeitmangels erklären. Diese Kumulation verdränge, wie häufig beklagt, die Muße aus unserem Leben; auch die Muße zum Lesen. Warum jedoch geht das Interesse an Lesen und Literatur gerade im Laufe der Schulzeit so häufig verloren, selbst wenn Kinder einmal begeisterte Bücherwürmer waren? Dr. Margitta Kuty hat dafür eine klare Antwort: „Es liegt vor allem daran, dass insbesondere das Analysieren von Texten unter Notendruck den Schülern die Unbefangenheit und Freude am Umgang mit Literatur und ihren spannenden Geschichten nimmt. Kinder und Jugendliche müssen die Chance erhalten, weiterzudenken. Dafür braucht man offenere Aufgabenstellungen. Reine Analyse führt fast immer zur Demotivation.“

Laura: „Ich brauche mindestens noch drei Bücher“

In der Bibliothek der Bertolt-Brecht-Gesamtschule in Bonn geht es, wie in jeder Bibliothek, nicht um Noten und Analysen. Hier tut man viel dafür, dass die Kinder und Jugendlichen sich wohl fühlen. Sie können nicht nur aus einer breiten Palette von Medienangeboten auswählen, sie dürfen auch in bequemen roten Lounge-Sesseln „die Seele baumeln lassen“ und sich umgeben von Bücherregalen über Gott und die Welt unterhalten.

„Ich gehe gerne hierhin, um zu entspannen. Hier ist es immer schön ruhig“, sagt Annika aus der Jahrgangsstufe 8, die gerade noch einen der begehrten Sessel ergattert hat. Ihr Klassenkamerad Linus ergänzt: „Es riecht hier gut. Eben nach Büchern. Lesen mag ich aber eher nicht“. Laura geht ebenfalls in die 8. Klasse. Sie steht am Ausleih-Computer und lässt sich jetzt nicht so gerne mit einer Frage stören: „Nächste Woche beginnen die Sommerferien. Ich brauche noch mindestens drei Bücher. Und gleich beginnt der Unterricht“, erklärt sie ihre Ungeduld.

Gute Atmosphäre, Vorlesen und neue Methoden

Man versteht: In dieser Bibliothek treffen Bücherwürmer und Muße suchende Kinder aufeinander. Das ist gewollt. Die Aufsicht führende Mutter Katharina M. (die Bibliothek wird von Eltern organisiert) erklärt: „Es ist uns wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler sich in einer Atmosphäre aufhalten, die einen positiven Bezug zu Büchern herstellt. Man muss bei uns nicht unbedingt lesen, sondern kann auch am PC arbeiten, in Zeitschriften blättern, sich leise unterhalten – oder einfach nur abhängen. Wir erleben häufig, dass ein Kind zunächst eher ziellos an den Regalen entlangstreift und sich dann plötzlich doch mit einem Buch in der Hand auf einen Stuhl setzt.“

Diese Atmosphäre lässt sich in einem Standard-Klassenzimmer nicht so leicht herstellen. Die Didaktikerin Dr. Margitta Kuty gibt den angehenden Englischlehrerinnen und -lehrern in Greifswald andere Tipps, um im Klassenzimmer Lust auf Lesen und Geschichten zu machen: „Ich ermutige sie zum Beispiel, auch in der Sekundarstufe noch vorzulesen. Das muss gar nicht lange sein, es reichen jede Stunde ein paar Minuten einer Lektüre; wie in einer Fortsetzungsgeschichte. Ich ermuntere auch, neue Methoden ausprobieren. In einer Klasse, die ich mit Studierenden besucht habe, las zum Beispiel jedes einzelne Kind ein anderes Buch. Das ging vom Inklusionskind, das ein Buch mit wenigen Worten und vielen Bildern vor sich hatte über das Kind, das am liebsten Comics las bis zum leidenschaftlichen Bücherleser. Auch die Aufgabenstellungen folgten unterschiedlichen Ansprüchen. Meine Studierenden staunten und sahen: Das geht!“

Inge Michels

Kompakt:
Häufig verlieren Kinder und Jugendliche irgendwann die Lust, zu lesen. Die Lust an Geschichten verlieren sie jedoch nicht. Deshalb sollte es in Schule und Unterricht zuallererst darum gehen, die Leidenschaft für Geschichten zu wecken und immer wieder neu anzufachen. Das gelingt durch den Einsatz weiterer, das Buch ergänzender Medien, durch Vorlesen über das Grundschulalter hinaus, besondere Angebote wie eine attraktive Bibliothek und durch gut durchdachte Methoden.