Ludmilla Parsyak | Stuttgart

Das Individuum im Blick

(sl) Individuelle Förderung erfordert ein wachsames Auge, die Fähigkeit, gut diagnostizieren zu können und vor allem auch Zeit, auf Schülerinnen und Schüler einzugehen.

Spätestens der so genannte PISA-Schock hat in deutschen Schulen, aber auch bei den Verantwortlichen in der Politik ein Nachdenken über die Unterrichtsmethoden ausgelöst. Ein Schlagwort bestimmt entsprechend vielerorts die Diskussionen: individuelle Förderung. Sie wird von Lehrkräften, besonders aber auch von jenen, die für altersbedingt ausscheidende Kolleg:innen nachrücken, erwartet. Hört man sich jedoch in Kreisen der Referendar:innen um, stellt man erstaunt fest, dass das Erlernen erforderlichen Handwerkszeugs zur Diagnose und individuellen Begleitung in ihrer Ausbildung immer noch eine eher untergeordnete Rolle spielen.

Dabei heißt es auf der offiziellen Seite der Kultusministerkonferenz: „Die Voraussetzung, um Schülerinnen und Schülern die bestmöglichen Zukunftschancen zu eröffnen, ist die individuelle Förderung entsprechend ihren Begabungen und Möglichkeiten. Diese kann beispielsweise in der Unterstützung bei Lernschwierigkeiten verschiedener Ursachen bestehen, in Zusatzangeboten für Kinder und Jugendliche mit einem schnelleren Lerntempo oder in besonderen Anreizen und Angeboten bei spezifischen Begabungen und ausgeprägten Interessen. Die Kultusministerkonferenz und die einzelnen Länder haben hier in den letzten Jahren zahlreiche Initiativen ergriffen und die Weichen neu gestellt.“

Förderbedarfe erkennen

Alina Glaß ist solch eine junge Lehrerin mit den Fächern Deutsch, Geschichte und Wirtschaft. In ihrem Studium sagt die 28Jährige, die gerade ihr Referendariat beendet hat, „habe ich davon, wie man Schwierigkeiten beim Lernen entdeckt und darauf eingehen kann, nicht viel gehört.“ Es sei durchaus einmal Bestandteil der Vorlesungen rund ums Thema Inklusion gewesen, doch intensiver wurde auch nicht auf solch „gängige“ Einschränkungen eingegangen, die beispielsweise eine Lese-Rechtschreib-Schwäche mit sich bringt. Wirklich verwundert hat sie die Tatsache nicht. Schließlich erinnerte sie sich noch gut an die eigene Schulzeit. Besonders ist ihr der Satz eines ihrer Lehrer im Gedächtnis haften geblieben: „Für zweimal Erklären werde ich nicht bezahlt.“

Dass dies nicht die Haltung sein kann, die der Persönlichkeit aller Schüler:innen gerecht wird, war ihr als Referendarin bestens bewusst. Zu „meinem großen Glück“ konnte sie einen Teil ihrer Ausbildung an der Lessing-Gemeinschaftsschule in Salzwedel absolvieren. Dort wie auch am Gymnasium der Stadt, wo sie den zweiten Teil des Referendariats verbrachte, habe sie „tolle Mentor:innen“ gehabt. So verinnerlichte sie zusehends, dass „es unsere Aufgabe ist, Förderbedarfe, auch solche, die noch nicht diagnostiziert wurden, zu entdecken und die Kinder entsprechend zu unterstützen.“ Ihre Erkenntnis, die zugleich als Hinweis für andere Referendar:innen gelten darf: „Mit einer stupiden Stunde schafft man das nicht.“

Mehr Arbeit – mehr Erfüllung

Wie aber kann es auch in zahlenmäßig großen Klassen gelingen, auf die einzelne Person einzugehen? An der Lessingschule erfuhr sie die Vorzüge des freien und projektbezogenen Lernens. „Wenn Du stärker in die Rolle der Lernbegleitung schlüpfst während die Schüler:innen eigenständig arbeiten, hast Du auch die erforderliche Zeit.“ Allerdings gelten eine hohe Aufmerksamkeit auf das Verhalten der Lernenden und die Bereitschaft, stark differenzierendes Arbeitsmaterial anzubieten, unabdingbar dazu. Alina Glaß ist überzeugt: „Das erfordert mitunter mehr Vorbereitung, ist aber am Ende zufriedenstellender für die Schülerinnen und Schüler, aber auch für Dich als Lehrkraft.“

Als ein Geheimrezept für die Diagnose nennt die aus Ellenberg (Altmark) stammende Lehrerin neben der Aufmerksamkeit, die Bereitschaft zur Kommunikation. Sie hat sich schon als Referendarin angewöhnt, Schüler:innen „mit ins Boot zu holen“. Sie bietet Feedbackrunden an, fragt was vom Fach erwartet wird, welche Atmosphäre „Ihr zum Lernen benötigt“ und wie „ich Euch unterstützen kann.“ Sie spürt: „Kinder und Jugendliche sind offen. Sie zeigen Dir, wenn etwas gut oder schlecht läuft.“ Wenn sich Unterrichtstörungen häuften, suche sie die Verantwortung nicht in erster Linie bei den Lernenden, sondern hinterfrage das eigene Handeln, beispielsweise, ob sie die Ansprüche „zu hoch angesetzt habe.“

Wichtig sei zu erkennen, ob Schwierigkeiten beim Lernen beispielsweise persönliche Ursachen haben oder ob jemandem schlicht der Zugang zu einem Thema schwerfalle. Häufig reagiere sie intuitiv, etwa, wenn die Mehrzahl bei ihrem Input die Stirn runzele. Wichtig sei auch, Schüler:innen so kennenzulernen, dass man einfach wisse, ob sie eher Typen seien, die gerne in der Gruppe oder alleine arbeiten, ob sie ihre Stärken eher im Schriftlichen oder Mündlichen hätten. Unterstützung bei fehlender Motivation, aber auch die Vermittlung, dass ein „schlechter Tag nicht schlimm ist“, ermöglichen nach ihrer Einschätzung vielen Lernenden nicht zu resignieren.

Nicht nur Klassenarbeiten zählen

Weil Alina Glaß verinnerlicht hat, dass Menschen eben unterschiedlich sind, bietet sie auch eine hohe Flexibilität bei der Leistungserhebung an. Schüler:innen, die bei einer Arbeit einen schlechten Tag erwischt haben und mit der dabei herausspringenden Note unzufrieden sind, dürfen zusätzlich nach dem Unterricht eine „ähnliche Arbeit“ schreiben und ihre Note so verbessern. Zudem bietet sie wie an der Lessingschule üblich unterschiedlichste Formen der Tests an: Meist gibt es nur eine Arbeit pro Halbjahr im klassischen Sinne, andere Formen der Leistungsfeststellung wie Präsentationen, Produktbewertungen oder Dokumentationen werden für die Beurteilung mit herangezogen. Alina Glaß macht anderen Referendar:innen Mut: „Keine Sorge, diese Form der Bewertung erlaubt uns das Schulgesetz.“

Kompakt:
Der Erlass zur Leistungsbewertung des Landes Sachsen-Anhalt an allgemeinbildenden Schulen und Schulen des Zweiten Bildungsweges der Sekundarstufen I und II im Wortlaut:
Leistungsbewertung dient der Information der Schülerinnen und Schüler sowie ihrer Erziehungsberechtigten über Leistungsstand und Stand der Kompetenzentwicklung. Die Auswertung dient als Grundlage für die Förderung der Schülerinnen und Schüler und für Maßnahmen zur Weiterentwicklung der Unterrichtsqualität. Leistungsbewertung umfasst mündliche, schriftliche und praktische Formen der Leistungsfeststellung, die Prozess, Produkt und Präsentation berücksichtigen. Die Fähigkeit der Schülerinnen und Schüler zur Reflexion von Leistungen, insbesondere auch zur Selbsteinschätzung, ist zu fördern und gegebenenfalls auch entsprechend zu berücksichtigen.