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Zwischen Referendariat und „Leben“: ein schwieriger Spagat

(sl) „Stress lass nach“, flehen Lehrkräfte im Referendariat oft, wenn sie abends müde ins Bett fallen. Ihre wöchentliche Arbeitszeit wächst, rechnet man alle Aufgaben zusammen, schnell auf 60 Stunden an. Und auch am Wochenende ist kein Feierabend in Sicht.

Angesichts eines solchen Szenarios verwundert es nicht, dass insbesondere angehenden Lehrkräften ein schmerzhafter Spagat zwischen Job und „Leben“, in der Fachsprache die Work-Life-Balance genannt, gelingen muss. Davon ist auch Rebecca Scheid (28) überzeugt. Sie ist Referendarin an der Ganztagsgemeinschaftsschule in Neunkirchen. Sie gesteht: „Diese Belastung in der Zeit des Referendariats hatte ich nicht auf dem Schirm.“

Ihr Wochenpensum umfasst neun Stunden Unterricht, sieben Stunden Hospitation, rund acht Stunden Besuch von Fach- und allgemeinen pädagogischen Seminaren. Unterricht vorbereiten, Klassenarbeiten korrigieren und die Vorbereitung auf eigenen Prüfungen kommen noch hinzu. Wer und warum mutet sich das jemand zu? Rebecca Scheid: „Erstens bekommt man extrem viel zurück und zweitens weiß ich ja, das Ganze dauert nur anderthalb Jahre. Dann wird es weniger stressig.“ Hoffentlich, mag man hinzufügen.

Fuß vom Gaspedal nehmen

Denn, dass Stress krank machen kann, belegen unzählige Studien. Ein dauerhaft in Schieflage geratenes Gleichgewicht zwischen Leben und Job führt schnell zu Burnout oder auch zum Herzinfarkt. Jeder Vierte empfindet in der Woche häufig so viel Stress und Überforderung, dass er nicht mehr weiß, wo ihm der Kopf steht. Vor allem die Generation Y (25 bis 35 Jahre) gab in einer Studie mit 56 Prozent an, oft unter dem hektischen Arbeitsleben zu leiden. Die Studie wurde 2018 vom Markforschungsinstitut Norstat im Auftrag der Bayerischen Staatsbad Bad Kissingen GmbH durchgeführt. Insgesamt wurden 1.049 Teilnehmende aus Deutschland im Alter von 18 bis 65 Jahren befragt.

Rebecca Scheid gehört der Generation Y an. Sie ist sich der „Gefahr“ bewusst geworden und hat daher auch das Wahlpflichtseminar „Umgang mit Stress“ belegt. Daraus hat sie für sich wichtige Erkenntnisse gezogen, so auch sich selbst zu hinterfragen: „Warum empfinde ich etwas gerade als Stress und mache ich ihn mir am Ende vielleicht selbst?“ Zu Letzterem zählt sie ein Phänomen, das wohl alle Lehrkräfte im Referendariat spüren: den Anspruch auf Perfektion. Er wird für viele zum ständigen Erfolgsdruck.

Rebecca Scheid: „Wir sollten alle einmal den Fuß vom Gaspedal nehmen. Perfekt geht nicht immer. Manchmal werden Unterrichtsstunden besonders gut, die man vermeintlich nicht optimal vorbereitet hat.“ Heute rät sie allen Referendar:innen: „Unterschätzt die Folgen der Belastung nicht, sucht Euch solche Unterstützungsangebote und entwickelt Strategien, wie Ihr mit stressigen Phasen umgeht.“

Wichtig: ein gutes Zeitmanagement

Viele Kultusministerien haben mittlerweile entsprechende Präventionsprogramme entwickelt. Sie sind unter anderem von Statistiken aufgeschreckt worden, die belegen, dass 10 bis 13 Prozent der Lehrkräfte in Deutschland unter Erschöpfungssymptomen leiden. Und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) warnt bereits davor, dass Depressionen schon in knapp einem Jahrzehnt die am stärksten belastende Krankheit sein wird.

Die junge Referendarin weiß, dass für viele auch die Vorweihnachtszeit zu den anstrengendsten Wochen zählt, andere sehen in ihr eher eine Chance. Nikolausaktionen zu organisieren, mit den Lernenden zu singen oder eine besinnliche Unterrichtsstunde anzubieten, können Ihrer Meinung nach sogar entlastend wirken.

Sie hat ihre eigenen Wege gefunden. Beispielsweise für ein gelingendes Zeitmanagement. Im Sommer, stets vor Beginn des Schuljahres, erstellt sie ihren ganz persönlichen Terminkalender. „Hier trage ich wirklich alles ein, Berufliches, Prüfungen, Privates. So kann ich frühzeitig erkennen, wann es besonders stressig wird und dem entgegensteuern.“ Das DIN-A4-Buch ist ihr ständiger Begleiter. Ebenso wie heutzutage das Handy, in dem die angehende Englisch- und Erdkundelehrerin alles speichert. Damit ihr alles aber auch direkt ins „Auge sticht“, vertraut sie es einem Wandkalender an, der gut sichtbar neben ihrem Schreibtisch hängt. Dankbar ist sie, dass es ihr möglich ist, manche Termine selbst zu steuern. Ihre jüngste Lehrprobe schob sie auf die Zeit nach den Herbstferien und nutzte die unterrichtsfreie Zeit zur eigenen Vorbereitung.

Entspannung oder mehr Stress

Viel Zeit für Privates bleibt während des Referendariats nicht. Als Zeitfresser für Rebecca Scheid gesellen sich die regelmäßigen Fahrten vom Wohnort Neunkirchen nach Saarbrücken zu den Schulen ihrer Fachleiter hinzu. Pro Fahrt hin und zurück kalkuliert sie eine Stunde ein: „Wenn kein Stau ist.“ So hat sie vorerst Abschied vom intensiven Hobby Feldhockey genommen. Ihrer einstigen Zweitligamannschaft steht sie aktuell nur noch „aus Freude“ ab und zu beim Training zur Verfügung. Dafür ziert ihr Zimmer daheim nun ein Boxsack: „Irgendwo muss das Angestaute ja hin.“ Wichtig sei, für sich selbst zu entscheiden: „Bringt mir beispielsweise der Sport gerade Entspannung oder eher noch mehr Stress?“ Wenn sie anderen Referendar:innen einen Rat geben soll, würde sie sagen: reden, reden, reden. Der Kommunikation kommt ihrer Einschätzung nach eine besondere Bedeutung zu: „Holt Euch Rat bei anderen (angehenden) Lehrkräften, bittet sie um Rückmeldung, tauscht Ideen und Konzepte aus.“ Sie empfiehlt auch, Freunde und Bekannte wissen zu lassen, dass man gerade unter Druck stehe. „Und trotzdem kann ich meine Freunde zwischendurch auch einmal fragen, wie es ihnen geht“, ist sie überzeugt. So wie sie, die sich abends gerne beim Kochen, bei einem guten Buch oder Film entspannt, auch dafür plädiert, sich Hilfe im Alltag zu holen: „Und wenn die Mama einmal ein Essen vorbeibringt.“

Kompakt:
Knapp ein Viertel aller angehenden Lehrkräfte leidet unter Burnout-Symptomen. Fast ein Drittel verlässt bereits in den ersten fünf Jahren wieder die Schule. Forschende der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg (MLU) haben 2020 in zwei Studien mit 130 Lehrkräften im Vorbereitungsdienst herausgefunden: Dem Problem lässt sich vorbeugen, wenn die Betroffenen über ein gut ausgeprägtes Selbstmitgefühl verfügen und nachsichtig mit sich selbst sind.
Die Folgen sind mitunter gravierend: Etwa ein Viertel der Studierenden leidet bereits vor dem eigentlichen Start ins Berufsleben unter Burnout-Symptomen, also emotionaler Erschöpfung, Zynismus und Leistungsmangel. „Burnout geht mit Einbußen im allgemeinen Wohlbefinden und der körperlichen Gesundheit einher", sagt die Psychologin Dr. Nancy Tandler von der MLU. Bei Lehrenden sei dies besonders problematisch: So würden nicht nur die Betroffenen leiden, sondern auch die Kinder und Jugendlichen, weil sie mit weniger En-gagement unterrichtet werden.