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Sensibel durch die eigene Betroffenheit

(sl). Es ist wieder einmal soweit: Halbjahreszeugnisse stehen an. Untrennbar damit verbunden stellt sich die Frage: Wie belohne und wie motiviere ich meine Klasse? Generationen von Lehrkräften haben darüber schon gegrübelt.

Die einen verteilen Sticker oder Klebeblättchen, andere ermöglichen den Lernenden, zu ent-scheiden, welches Märchen gelesen oder welches Spiel in der Pause gespielt werden soll. Die Palette der Möglichkeiten, die sich (Nachwuchs-)Lehrkräften bietet, ihrer Klasse ihre Zufriedenheit zu zeigen, sie zu loben, sie zu motivieren, ist so bunt wie die Farbauswahl einer Malerin.

Noten gelten dabei zumindest in Fachkreisen nicht unbedingt als erstes Mittel der Wahl. Was, so fragt sich manch einer der Fachkräfte, sagt eine drei in Mathematik schon aus? Wissen die Lernende dadurch, in welchem Teilgebiet sie Stärken und Schwächen haben? Motiviert ein befriedigend? Gern erzählt wird die Erfahrung einer Aachener Gymnasiastin. Zum Ende des Halbjahres teilte ihr ihre Lehrerin mit, dass sie mit viel Wohlwollen eine drei minus erhalte. Auf dem Zeugnis stand: befriedigend. Nur sechs Monate später hörte die Schülerin: „Wahnsinn, wie Du Dich gesteigert hast, Du bist ganz knapp an einer zwei vorbeigerauscht.“ Auf dem Zeugnis stand: befriedigend. Völlig frustriert erklärte das Mädchen ihren Eltern: „Dafür habe ich mich angestrengt? Von schwach drei auf knapp zwei und das Ergebnis ist dasselbe…“

Zweifel an der Aussagekraft

Angesichts solch nachvollziehbarer Frustrationen und mit Blick auf die Aussagekraft von Noten ermöglichen viele Bundesländer ihren Schulen, zumindest in den ersten Jahren der Grundschule auf Ziffernnoten zu verzichten. Man möchte die individuelle Entwicklung beobachten und darstellen: Gut gelingt Dir schon…, verbessern könntest Du Dich durch diese und jene Übung... Sätze wie diese finden sich auf immer mehr Zeugnisse wieder und ermöglichen auch den Eltern, ihre Kinder gezielter zu unterstützen. Auch wenn Lehrkräfte immer wieder erfahren, dass viele Eltern an den Noten gerne festhalten. So wie die der Offenen Ganztagsschule Wentorf, einer rund 40 Kilometer von Hamburg und bereits in Schleswig-Holstein gelegenen Schule. „Leider haben wir es nicht geschafft, die Noten abzuschaffen. Wir konnten unsere Eltern nicht überzeugen“, bedauert die Leiterin der Grundschule Sonja Henke.

Die Problematik der Noten, der Beurteilung und Anerkennung ist auch der Schulleiterin der Grundschule am Dichterviertel im nordrhein-westfälischen Mülheim, Nicola Küppers, bewusst. Ihre Schule erhielt 2021 den Deutschen Schulpreis in der Kategorie „Bildungsgerechtigkeit fördern“. Sie und ihr Kollegium setzen sich dafür ein, dass „Ungleiche ungleich behandelt“ werden. Will heißen: Das leistungsschwächere Kind, das sich verbessert hat, kann in der Grundschule am Dichterviertel durchaus ein "dickeres" Lob einheimsen als jenes, das zu den Leistungsstarken zählt und wieder eine hervorragende Leistungsüberprüfung abgegeben hat.

Noten und Worte

Noten dienen, wie die Beispiele zeigen, vielen als vermeintlich leichte Einschätzung der Leistung ihrer Kinder. Dass es auch der Erläuterung einer Ziffer bedarf, weiß Jessica Karrasch. Die 25-Jährige absolviert ihr Referendariat seit Januar 2021 an der Gutenberg-Grundschule im rheinland-pfälzischen Dierdorf. Erklärungen sind oft hilfreich, wenn es sich etwa um die Beurteilung einer Klassenarbeit dreht. „Wie kann es sein, dass meine Tochter eine drei bekommt, obwohl sie alle Aufgaben richtig gelöst hat und ihre Klassenkameradin ebenfalls ein befriedigend erhält trotz einiger Fehler“, wird sie immer wieder einmal gefragt. Die Antwort überzeugt: Die Lernenden durften zwischen Arbeiten unterschiedlicher Anspruchsniveaus wählen. Wer sich für die leichtere entschied, konnte gar nicht besser als mit einer drei abschneiden. Karrasch: „Wichtig ist auch, bei den Noten eine präzise und klare Kommunikation – auch gegenüber den Kindern.“

Sensibel für die Wirkung

Auf materielle Belohnungssysteme wie Süßigkeiten verzichtet die angehende Lehrerin. „Wenn es dem Kind nicht gutgeht oder wenn es etwas besonders gut gemacht hat, darf es sich bei mir schon einmal ein Buch aussuchen, das wir gemeinsam lesen wollen.“ Doch insgesamt setzt sie auf den persönlichen Draht: „Wir versuchen, immer ein offenes Ohr für unsere Grundschulkin-der zu haben und mit ihm zu reden.“ Dabei wählt sie gerne feine Differenzierungen. „Das ist aber richtig schlecht gelaufen…“, kommt ihr nicht über die Lippen. „Das kannst Du vielleicht noch besser, wenn Du…“, empfindet sie als die bessere Wortwahl. Und sie weiß, auch Kinder verstehen, dass sie noch Steigerungspotenzial besitzen, wenn sie hören: „Das machst Du schon ganz gut.“

Einen spannenden Aspekt formuliert Jessica mit Blick auf ihr junges Alter. „Es macht uns Nachwuchslehrkräfte wohl sensibler für die Wirkung von Noten und Formulierungen, dass wir selbst noch in einer Phase sind, in der wir selbst beurteilt werden.“ Auf sechsen wird daher verzichtet, dafür werden nach oben gestellte Daumen verteilt. Und immer wieder versucht die künftige Deutsch- und Religionslehrerin „ihren“ Kindern zu vermitteln: „Jede Note, jede Beurteilung und jedes Zeugnis stellt Momentaufnahmen dar. Schon beim nächsten Mal kann alles ganz anders aussehen.“

Kompakt:
Die Frage der Bewertung durch Schulnoten wird in den Bundesländern unterschiedlich geregelt. Meist beginnt die Notengebung in der zweiten oder dritten Klasse. Oft gibt es aber besondere Modelle an einzelnen Schulen, die es ermöglichen, auf Ziffernnoten bei der Leistungsbewertung zu verzichten.
So können beispielsweise in Hessen seit dem Schuljahr 2020/21 „Pädagogisch selbstständige Schulen“ schriftliche Bewertungen statt Ziffernnoten geben. Pro Jahr haben 30 Schulen die Möglichkeit, einen Antrag auf „pädagogische Selbstständigkeit“ zu stellen. In Berlin können Gemeinschaftsschulen bis zur achten Jahrgangsstufe auf Noten verzichten. An den Gemeinschaftsschulen lernen die Kinder von der ersten bis mindestens zur zehnten Klasse. Ein No-tenzeugnis für den Übergang an eine weiterführende Schule ist deshalb in der Regel nicht nötig.
Bayern hatte 2014/15 für Kinder der Klassen eins bis drei zum Halbjahr Lernentwicklungsgespräche eingeführt, die die Halbjahreszeugnisse ersetzen können. Jahreszeugnisse gibt es in Bayern ab dem Ende der zweiten Klasse.
Aber es gibt auch gegenläufige Tendenzen. In Schleswig-Holstein etwa hat die Kultusministerin Karin Prien (CDU) im Schuljahr 2018/19 Notenzeugnisse ab der dritten Klasse per Schulgesetz wieder zum Regelfall gemacht.
Quelle: Das Deutsche Schulportal