iStock | yangwengshuan

Alternativer Unterricht: wenn Schulen „segeln“ und Kinder am „Frei Day“ lernen

(imi) Landauf landab werden Expert:innen wie die Professorin für Grundschuldidaktik Uta Hauck-Thum nicht müde, zu erklären, dass sich Lehrkräfte mit neuen Unterrichtsformen, prozessorientierten Leistungsbewertungen und einer veränderten Feedbackkultur befassen müssen. Mehr alternative Formate in die Schule! – so die Forderung.

Aber was genau ist „alternativ“? Carsten Kroppach vom Netzwerk Zukunftsschulen NRW zählt z. B. Lernzeiten-Konzepte dazu. Eines wurde an der Bonner Bertolt-Brecht-Gesamtschule eingeführt. Dort soll das SElbstGEsteuerte LerneN (kurz SEGELN) durch seine hohe Wahlfreiheit die Lernmotivation steigern. Gleichzeitig dienen eine aufwendige Differenzierung der Lernziele, der Lernmethoden und des Lernmaterials dazu, die Heterogenität der Kinder stärker berücksichtigen. Eine Schule, die „segelt“, setzt z.B. in den ersten Unterrichtsblock jeden Tages „Segelzeit“ für bestimmte Fächer an.

Ein anderes Konzept beruht auf der Dalton-Pädagogik. Kernelemente sind der 60-Minuten-Rhythmus der Unterrichtsstunden und die tägliche Dalton-Zeit. In dieser haben Lernende Gelegenheit, länger an Aufgaben zu arbeiten oder Inhalte zu vertiefen. Insgesamt macht die Dalton-Zeit ein Drittel der Unterrichtszeit aus. In beiden Konzepten werden die Lehrkräfte geschult, sich vor allem als Lernbegleitungen oder Lerncoach zu verstehen.

Zuhause lernen, im Unterricht fragen

Das ist ganz im Sinne von Christian Eberhard, dem Schulleiter der Offenen Ganztagsschule Gottfried Kinkel in Bonn. Seine Vorstellung von zukunftsorientiertem Unterricht gehen ebenfalls in Richtung Lernbegleitung. Immer mehr Schulen versuchen, so die Beobachtung von Kroppach und Eberhard, ihre Konzepte in diesem Sinne umzustellen. Sie argumentieren, dass es nicht mehr nur darum gehen kann, abrufbares Wissen zu lernen. Lernende müssten vor allem befähigt werden, sich selbst Lerninhalte kritisch zu erarbeiten.

Unter dem Begriff „Flipped Classroom“ wird in diesem Zusammenhang ein Verständnis von Unterricht bezeichnet, bei dem der Unterricht auf den Kopf gestellt wird. Den Lernenden werden insbesondere Erklärvideos an die Hand gegeben, mit denen sie sich den neuen Inhalt selbstständig erarbeiten können. Der Input geschieht im eigenen Tempo, wann man will und wo man will. Im Unterricht bleibt somit Zeit, um zu üben und Verständnisfragen zu klären. Auch hier wird die Lehrkraft zum Coach. Kroppach: „Der Zug geht eindeutig in Richtung Digitalität und Lernbegleitung. Klar ist aber auch, dass alternative Formen nur mit verbindlichen Konzepten im Team funktionieren“.

Mathe auf dem Klettergerüst

Vom „Flipped Classroom“ würde Christian Eberhard für seine Schule zwar nicht sprechen, aber angehende Lehrkräfte, die sich hier gezielt bewerben, wissen ganz genau, dass das Team in der am Rhein gelegenen Grundschule etwas anders unterrichtet. Es beginnt schon damit, dass sich die Kinder ihren Arbeitsort frei wählen können. Dabei dürfen sie z. B. nicht nur entscheiden, ob sie beim Lernen sitzen, liegen oder stehen möchten, sondern auch, ob sie die Matheaufgaben im Flur, auf dem Klettergerüst oder im Klassenraum lösen möchten. Anders als anderswo verläuft auch der Donnerstag. Donnerstag heißt hier „Frei Day“. Dieser Schultag liegt ganz in den Händen der Lernenden, die an diesem Tag an ihren selbst entwickelten Projekten arbeiten.

Jeder Donnerstag ist „Frei Day“

Der „Frei Day“ geht auf die Gymnasiallehrerin und Schulleiterin Margret Rasfeld zurück. Die Gründerin der Bewegung „Schule im Aufbruch“ möchte Schulen auf ihrem Weg zu einer zukunftsweisenden Lernkultur unterstützen. An der Gottfried-Kinkel-Schule startet der „Frei Day“ mit einem gemeinsamen Lied auf dem Schulhof, bevor die intensive Arbeit an den jahrgangsübergreifenden Projekten beginnt. Da die Schule sich an den 17 Zielen für Nachhaltige Entwicklung im Rahmen des UNESCO-Programms Bildung für nachhaltige Entwicklung (BNE) orientiert, geht es in den Projekten um Klimaschutz, Hunger, Armut oder Umgang mit Ressourcen. „Die Kinder sollen ihre Projekte nicht nur planen, sondern auch bis zur Umsetzung begleiten“, erläutert Schulleiter Eberhard und berichtet z. B. davon, dass sich eine Projektgruppe mit artgerechter Tierhaltung beschäftigte und in mehreren Zoos anrief, um sich nach der Situation der Tiere zu erkundigen. Erst dann entschied sie, in welchen Tierpark guten Gewissens ein Ausflug gemacht werden konnte.

Test? Jedes Kind entscheidet selbst

Der „Frei Day“ endet mit einer Reflektion der Arbeit. Was habt ihr erlebt? Wie weit ist jeder von euch gekommen? Was habt ihr bewirkt? – Solche und andere Fragen stehen nicht nur am Donnerstag sondern jeden Schultag im Mittelpunkt des Unterrichts. Die Antworten sind so individuell, wie es die Kinder der inklusiven Schule sind. Deshalb ist auch die Lernzielkontrolle individuell. Jedes Kind entscheidet selbst, zu welchem Zeitpunkt es sein Wissen überprüfen lassen möchte.

Wie das funktionieren kann, erläutert der Schulleiter an dem „Matherad“. Mit einem Magneten wandert jedes Kind von Arbeitsfeld zu Arbeitsfeld und lässt ihn dort ruhen, wo es gerade arbeitet. Wenn es das Rad umrundet hat, kann es sich zur Lernzielkontrolle an seine Lehrkraft wenden. Die Konsequenz: Jedes Kind arbeitet nach seinem Rhythmus und lernt, sich selbst einzuschätzen. – Auch die Lehrkräfte lernen weiter: Demnächst steht eine digitale Fortbildung mit der Professorin Hauck-Thum an. Dort geht es um noch mehr alternative Formate der Leistungsüberprüfung.

Kompakt:
In immer mehr Schulen ziehen alternative Formate des Unterrichtens ein. Manche stellen ihre komplette Unterrichtsstruktur um, setzen auf Lernzeiten-Konzepte oder auf das Lernen mit Erklär-Videos. Andere starten mit der freien Wahl des Lernortes, dem „Frei Day“ oder neuen Formen der Leistungsüberprüfung. Allen gemeinsam ist die Einsicht, dass die Zukunft des Lernens in der Selbstmotivation und der kritischen Selbsterarbeitung von Inhalten liegt.